Start-ups mit XX-Faktor
Interview mit Andrea Schirmacher, Senior Expert Female Entrepreneurship und Vorstandsfrau der WeiberWirtschaft eG
Noch immer sind Frauen im Gründungsgeschehen unterrepräsentiert. Obwohl die Hälfte aller Studierenden weiblich ist, geht die Initiative zur Gründung nur bei jedem fünften Technologie-Start-up von Frauen aus. Bei Venture-Capital-Finanzierungen sinkt der Anteil weiblich geführter Start-ups sogar auf fünf Prozent. Andrea Schirmacher, Senior Expert Female Entrepreneurship und Vorstandsfrau der WeiberWirtschaft eG in Berlin, arbeitet seit über 20 Jahren daran, dieses Ungleichgewicht zu beheben: Praktisch mit dem Aufbau der Gründerinnenzentrale, in der sie Gründerinnen berät – und theoretisch mit ihrer Dissertation zum Thema Unternehmerinnenzentren sowie mit diversen Forschungsprojekten. Hier spricht sie über ein lebendiges Unternehmerinnentum, genderspezifische Auswirkungen von Rahmenbedingungen sowie über die Sensibilisierung für typische Codes und Muster der Diskriminierung.
Obwohl sich die Startbedingungen für Start-ups in den letzten 20 Jahren sehr verbessert haben und sich viele Initiativen explizit an Gründerinnen richten, bleiben Frauen im Gründungsgeschehen unterrepräsentiert. Wie ist das zu erklären?
Ja, die Startbedingungen für Gründungen und die gesellschaftliche Sicht auf Gründerinnen haben sich sehr verbessert. Dennoch stelle ich mir gern vor, wie es wäre, wenn das große, oft noch brachliegende unternehmerische Potenzial von Frauen stärker genutzt würde. Würden sie mehr dazu ermutigt, ihre Ideen und unternehmerischen Talente ein- und umzusetzen und in gleichem Maße wie Männer gründen, würde das ein erhebliches, vermutlich nachhaltigeres Wirtschaftswachstum auslösen. Es gäbe mehr Wohlstand und auch weniger Altersarmut, die überdurchschnittlich oft Frauen trifft. Dieses Potenzial haben wir von der WeiberWirtschaft seit mehr als 20 Jahren vor Augen und arbeiten daran, es zu heben. Dafür bieten wir Gründerinnen und Unternehmerinnen in unserem Gewerbehof Geschäftsräume an, unterstützen sie durch Beratungen in unserer Gründerinnenzentrale bei der Umsetzung ihrer Ideen und arbeiten auf vielfältigen Ebenen daran, für die Thematik zu sensibilisieren. Denn wenn Frauen im Gründungsgeschehen unterrepräsentiert bleiben, verschenken wir als Gesellschaft nicht nur das volkswirtschaftliche Potenzial, sondern auch die Möglichkeit zur gleichberechtigten Teilhabe am Wirtschaftsgeschehen.
Bleibt die Frage, warum Frauen so unterrepräsentiert sind?
Die vorliegenden Zahlen und Forschungsbefunde zeichnen ein heterogenes Bild. Laut Statistischem Bundesamt liegt der Frauenanteil unter Selbständigen bei 47 Prozent. Der KfW-Gründungsmonitor registriert 42 Prozent Frauen bei Existenzgründungen und unter Social Entrepreneuren sind Frauen ebenfalls stark vertreten: Sie sind an drei Viertel aller Gründungen beteiligt. Dagegen sind nur bei 20 Prozent der Start-ups Frauen im Gründungsteam. Es gibt also je nach Gründungsart und -thema große Unterschiede, die mit der Berufs- und Studienfachwahl von Frauen korrelieren. Auch sind Frauen öfter solo oder im Nebenerwerb selbständig – und damit abseits des medialen Fokus.
Im Alltag fällt auf, dass Frauen selbstkritisch sind und ihre vorhandenen Fähigkeiten anzweifeln, während Männer oft bluffen und Halbwissen zu verkaufen wissen. Spielen solche sozialisationsbedingten Faktoren eine Rolle – und wie sind sie überwindbar?
Die Sozialisation ist ein wichtiger Faktor – und zwar nicht nur bei den Frauen selbst. Geschlechterstereotype werden im Elternhaus, in Kitas, Schulen und Vereinen oder in den Medien tradiert. Sie führen dazu, dass junge Frauen und Männer die eigenen Fähigkeiten unterschiedlich wahrnehmen. Die Fachwelt spricht von einem „Confidence gap“. Diese „Vertrauenslücke“ hält sich leider hartnäckig und speist sich aus unbewusst verinnerlichten Normen und Regeln – sogenannte „unconscious biases“. Eine der Folgen ist das unterschiedliche Risikobewusstsein. Gründerinnen wird immer wieder nachgesagt, sie seien „risikoavers“. Tatsächlich haben sie oft eine realistischere Einschätzung der Risiken, wo Gründer nach dem Motto „Augen zu und durch“ agieren und öfter scheitern. Die Statistik zeigt: Start-ups mit Frauenbeteiligung sind im Schnitt stabiler und wachsen nachhaltiger.
Macht sich das bei Ihrer Arbeit in der Gründerinnenzentrale bemerkbar?
Unternehmerischer Erfolg bemisst sich für Gründerinnen nicht nur monetär. Es geht ihnen auch um gesellschaftlichen Impact oder die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Wir beraten zum Bespiel oft junge Mütter, die sich eine mit ihrem neuen Alltag kompatible berufliche Perspektive aufbauen wollen. Ein weiterer Schwerpunkt unserer Arbeit ist es, Frauen den Zugang zu Business-Netzwerken zu erleichtern und sie in Finanzierungsfragen zu unterstützen. In diesem Bereich gibt es strukturelle Barrieren für Gründerinnen. Denn wer statt eines schnellen Exits eine langfristig nachhaltige Unternehmensentwicklung anstrebt, ist für Business Angels und Venture-Capital-Investoren uninteressant. Um diese Hemmnisse zu überwinden, gibt es diverse Instrumente. Einfach zu beheben sind Fehlanreize wie das Ehegattensplitting oder der für Gründende komplizierte Zugang zu Elterngeld. Langfristig bleibt die Überzeugungsarbeit wider die Geschlechterstereotypen, beispielsweise indem Lehrinhalte in MINT-Fächern stärker auf Schülerinnen und Studentinnen zugeschnitten werden.
Wie genau läuft die Unterstützung von Gründerinnen bei Ihnen ab?
Wir haben in der Nachwendezeit die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, einen Gewerbehof zu erwerben. Diesen betreiben wir als Genossenschaft. Seit der Eröffnung im Jahr 1996 haben hier hunderte Frauen gegründet. Wir haben Platz für 70 Mietparteien. Die Mieten sind moderat, steigen aber mit der Zeit. Wir haben eine Kita, eine Kantine, einen Tagungsbereich – und sind im Sinne kurzer Wege bewusst in ein Wohnviertel gezogen. Die Gründerinnenzentrale bietet seit 2006 individuelle orientierende Beratung sowie Vernetzungs- und Empowerment-Veranstaltungen an, die gut 3.000 Frauen jährlich nutzen. Die meisten befinden sich in der Planungs- oder Frühphase einer Gründung. Bei fachlichen Fragen verweisen wir sie an Beraterinnen aus unserem Netzwerk, an klassische Institutionen wie die Industrie- und Handelskammer (IHK) und an spezifische, zu ihrem Projekt passende Beratungsstellen. Zudem haben wir ein Mentoringprogramm und unterstützen Gründerinnen beim Vorbereiten von Finanzierungsgesprächen. Ein Erfolg ist unser Peergruppen-Coaching, das je fünf Gründerinnen aus unterschiedlichen Branchen zusammenbringt, die einander coachen, Ziele formulieren und sich gegenseitig bei der Umsetzung beraten.
Sie wirken in dem Forschungsprojekt „InnoGründerinnen“, welches Hochschulausgründungen von Frauen untersucht. Gibt es schon Befunde, was diese begünstigt und welche Hemmnisse es gibt?
Wir haben in dem gemeinschaftlichen Projekt erstmals in einer Vollerhebung alle Hochschulen zu ihren Aktivitäten rund um Gründungen sowie zu ihren spezifischen Angeboten für Gründerinnen befragt. Hierbei haben wir fünf Hochschultypen identifizieren können. Einem davon gelingt es besonders gut, Frauen für Gründungen zu interessieren und aktivieren. Diese Gruppe haben wir genauer unter die Lupe genommen, um die Faktoren für ihren Erfolg zu analysieren. Interessanterweise spielen Förderprogramme wie EXIST dabei eine untergeordnete Rolle. Vielmehr geht es um Basics wie gendergerechte Kommunikation, um Veranstaltungsformate von Frauen für Frauen sowie um einen insgesamt niedrigschwelligen Zugang zum Thema Gründung sowie passende thematische Schwerpunktsetzungen. Erfahrungsgemäß sprechen Veranstaltungen zu „Social Entrepreneurship“ oder „Gründen und Carearbeit“ Frauen stärker an als Männer. Erfolgsfaktoren sind außerdem Angebote zur Vernetzung von und mit Frauen sowie Formate wie Planspiele, Maker-Spaces oder Hackathons, für die weibliche Teilnehmer gezielt angesprochen werden. Das übergeordnete Ziel ist es, dass mehr Frauen das Gründen eines Start-ups als realistische Karriereoption begreifen.
Ich hätte erwartet, dass die vergleichsweise einfache Seed-Finanzierung über das EXIST-Programm eine wichtige Rolle spielt…
EXIST ist stark auf technologische Innovationen und auf Gründungsteams zugeschnitten. Viele Frauen haben den erwähnt anderen Fokus. Daher liegt der Frauenanteil hier nur um 20 Prozent. Eventuell bringt das neue Programm „EXIST-women“ eine Trendwende. Es ist den Stipendien vorgelagert und legt mehr Wert auf Vernetzung und Empowerment. Auch so hat unsere Erhebung aber viele Positivbeispiele zur Aktivierung von Gründerinnen identifiziert, die wir in Form von Handlungsempfehlungen publik machen werden.
Im Projekt „KITE“ gehen Sie diskriminierenden Erfahrungen sowie den typischen Mustern und Codes der Ausgrenzung auf den Grund. Das Ziel ist es, Gründerinnen durch gezielte Trainings resilienter gegen derartige Einflüsse zu machen. Gibt es Situationen, wo das besonders wichtig ist?
In der täglichen Arbeit berichten uns Gründerinnen häufig von Erfahrungen, die sie als demotivierend und diskriminierend wahrnehmen. Teils schreckt sie das von der Verwirklichung ihrer Gründungsideen ab. Wir arbeiten in „KITE“ in interdisziplinären Teams mithilfe von KI und Gamification daran, dass sich Gründerinnen spielerisch für solche Situationen wappnen können. Zunächst geht es darum, dass sie typische Muster und Codes durchschauen. Was sie unvorbereitet als persönlichen Angriff interpretieren, können sie nach dem Training als strukturelles Problem einordnen, das nicht auf ihre Person zielt. Anstelle des Gedankens, als Person nicht gut genug zu sein und fachlich nicht zu überzeugen, sollen strukturelle Barrieren ins Bewusstsein rücken. Zudem schwebt uns vor, dass Gründerinnen spielerisch lernen, sich in einer solchen Situation zu behaupten. Dafür müsste die eingesetzte KI die Diskriminierung erkennen, ohne diese unterschwellig zu reproduzieren. Aktuell ist das Projekt in Phase zwei und die konkrete Umsetzung hat begonnen. Ein Bereich, wo eine solche spielerische Vorbereitung auf den Ernstfall sicherlich sinnvoll erscheint, sind Finanzierungsgespräche. Denn dort erleben Frauen oft, dass sie mit ihren Geschäftsideen nicht ernst genommen werden...
Laut Female Founders Monitor gingen zuletzt lediglich fünf Prozent der Wachstumsfinanzierungen und ein Prozent der investierten Summe an weiblich geführte Start-ups...
…was zwar nur einen Bruchteil weiblicher Gründungen betrifft, aber natürlich indiskutabel ist. Studien zeigen, dass es für rein männliche Teams viermal so wahrscheinlich ist, Risikokapital zu bekommen, wie für Teams mit mindestens einer Frau. Dabei sind diversere Teams erwiesenermaßen erfolgreicher. Es ist auch so, dass dieselben Eigenschaften bei Frauen und Männern verschieden gelesen werden. Enthusiasmus und Jugend werten Investoren bei Männern eher positiv: „jung-dynamisch, brennt fürs Thema“ – bei Frauen negativ: „naiv und unerfahren“. Untersuchungen von Finanzierungsgesprächen zeigen auch, dass Frauen darin oft andere Fragen beantworten müssen. Sie werden eher gefragt, was passiert, wenn ihr Plan nicht aufgeht, während es bei Männern mehr um Potenziale und Skalierungschancen ihrer Geschäftsideen geht. Es gibt mittlerweile Initiativen wie „Encourage Ventures“, die diesen Missstand adressieren. Wünschenswert wären eigens für weiblich geführte Scale-ups vorgesehene, auf langfristige Beteiligung statt auf schnelle Exits ausgelegte Geldtöpfe.
Zur Person:
Seit zwei Jahrzehnten gehört Dr. Andrea Schirmacher dem Vorstand der Berliner WeiberWirtschaft eG an, deren Gründerinnenzentrale sie initiiert und mitaufgebaut hat. Als Senior Expert Female Entrepreneurship setzt sich die promovierte Sozialwissenschaftlerin für die Förderung eines weiblichen Unternehmertums ein und beteiligt sich an Forschungen für ein besseres Verständnis der motivierenden, demotivierenden und auch diskriminierenden Faktoren, mit denen Frauen auf dem Weg zum eigenen Unternehmen konfrontiert sind. Sie kennt zudem die ordnungspolitische Perspektive: von 2015 bis 2017 war Schirmacher in der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen für Grundsatzangelegenheiten der Gleichstellung von Frauen in der Privatwirtschaft zuständig.
Das Interview führte Peter Trechow für CHIC!