Pause vom digitalen Dauerfeuer
Die Auszeit-App der HU-Ausgründung Offtime
Durch Smartphones, Internet und soziale Medien sind zwei Drittel der Bürger heute fast immer und überall erreichbar. Die Digitalisierung sorgt für schnelleren Informationsfluss – und für Dauerstress bei der Arbeit und in der Freizeit. Eine von Psychologen der HU in Adlershof gegründete Firma hat deshalb eine Auszeit-App entwickelt.
Die Gäste in der überfüllten Cafeteria im Betahaus in Kreuzberg sehen nicht so aus, als seien Freizeit und Arbeit für sie überhaupt noch getrennte Kategorien. Bei Capucchino und Bagels wird über Jobprojekte beraten. Der „Co-Working Space“ am Moritzplatz bietet jungen Start-ups der Digitalbranche Raum zum entspannten Kontakteknüpfen und harte Arbeit – der Lärmpegel erinnert an einen summenden Bienenkorb.
Auch Alexander Steinhart und seine Kollegen von der Firma Offtime haben hier Schreibtische gemietet. Sie pendeln zwischen dem Betahaus und ihren Büroräumen in Adlershof, wo das Ganze als Uniprojekt am Lehrstuhl der Arbeitspsychologin Annekatrin Hoppe begann. Auf den ersten Blick erscheint ihr Geschäftsmodell dem der digitalen Hippster entgegenzulaufen: Mit einer App wollen sie helfen, wieder „Raum zum Atmen in unserer hypervernetzten Welt zu finden“, wie das 2013 gegründete Start-up es auf seiner Website formuliert. Steinhart hat die Erfahrung gemacht, dass gerade Technikaffine es zu schätzen wissen, mit Hilfe der App bestimmte Dienste zeitweise abklemmen zu können. Wenn sich nicht mehr ständig neue Nachrichten auf WhatsApp, Facebook und Twitter oder auch E-Mails und Anrufe bemerkbar machen, ist es endlich wieder möglich, sich im Job und Privatleben auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Wir wollen mit unserem Tool die Ablenkung reduzieren“, sagt Steinhart beim Kaffee in der lärmenden Cafeteria.
Mehr als 60-Mal am Tag checken manche Nutzer heutzutage ihr Smartphone – „oft aus Langeweile, und dann bleiben sie stundenlang im virtuellen Raum hängen“, sagt Steinhart. Es sei ähnlich wie bei anderen Süchten, erklärt der Psychologe. Ein Like auf Facebook, ein Retweet bei Twitter wirken direkt auf das Belohnungszentrum im Hirn – und verleiten dazu, immer wieder dort die eigene Resonanz zu prüfen. Da viele Nutzer angesichts des Überangebots digitaler Plattformen gar nicht mehr aufhören können, besteht nach Ansicht Steinharts dringend Aufklärungsbedarf: „Am Anfang haben Internet und digitalen Medien viele Vorteile gebracht: Wir kamen schneller an Informationen und konnten durch die Vernetzung leichter kommunizieren.“ Aber inzwischen habe die Vernetzung ein Ausmaß erreicht, dass „wir dringend über die richtige Nutzung diskutieren müssen“.
Das Handy einfach in den Flugmodus zu stellen, wenn jemand seine Ruhe haben will, sei nicht die richtige Lösung, sagt Steinhart. „Es bringt nichts, Offline und Online gegeneinander auszuspielen.“ Die Offtime-App will einen realistischen Mittelweg anbieten: Der User kann gezielt wählen, welche Apps und Funktionen er abschalten will, und doch zugleich dafür sorgen, dass er für den Chef oder die Kinder erreichbar bleibt. Es gibt Funktionen, die warnen, wenn jemand sich beim E-Mail-Lesen oder Surfen zu verlieren droht.
Etwa 100.000 aktive Nutzer hat das junge Unternehmen schon gewonnen. Und das weltweit, denn die App, die es für das Android-Betriebssystem und in einer Lightversion auch für iOS gibt, wird in mehreren Sprachen angeboten. Die Motive der Nutzer sind unterschiedlich: Manche sind einfach nur Technikfreaks, andere wollen digitale Angebote bewusster und ausgewogener nutzen und wieder andere hoffen, eine sich anbahnende Internetsucht abzuwenden.
Steinhart sieht noch einigen Handlungsbedarf, was die Erforschung der Auswirkungen der Digitalisierung angeht. „Es ist naiv zu glauben, die nachfolgende Generation werde schon von selber lernen, dieses Überangebot zu beherrschen.“ Derzeit gehe die öffentliche Debatte eher in die falsche Richtung: Die Industrie suggeriere gerade jungen Menschen, „dass sie out sind, wenn sie diese oder jene Anwendung nicht nutzen“, kritisiert Steinhart. „Wir stehen am Beginn der vierten industriellen Revolution: Die zentrale Frage ist nicht mehr die nach der Work-Life-Balance, sondern nach der Work-Life-Tech-Balance.“
Von Claudia Wessling für Adlershof Journal