Neue Wege in der Krebsforschung
Adlershofer Chemiker will mit 2,5 Mio. Euro vom Europäischen Forschungsrat die Ansätze einer neuartigen Krebstherapie untermauern
„Molekulare Doktoren zu entwickeln“ ist das Ziel der Forschung von Oliver Seitz. Der Professor am Adlershofer Institut für Chemie der Humboldt-Universität zu Berlin versteht darunter modifizierte Biomoleküle, die in Körperzellen Diagnosen durchführen und medikamentös wirken können. Das geschieht durch Wechselwirkung mit der RNA, der Ribonukleinsäure, die die Blaupause für die Herstellung von Proteinen in der Zelle gibt. „Wir wollen dazu die Informationen, die in der RNA stecken, nutzen“, sagt der Chemiker. Die „Doktoren“ sollen zunächst herausfinden, ob eine bestimmte Zelle gesund oder krank ist. Im letzteren Fall soll beispielsweise ein Wirkstoff freigesetzt werden, der das „Selbstmordprogramm“ der Zelle anwirft. Diese „Apoptose“ ist eigentlich ein natürlicher Mechanismus, der alte, kranke oder nicht mehr benötigte Zellen absterben lässt und bei Menschen, Tieren und Pflanzen gleichermaßen funktioniert.
Doch bei Tumoren ist das Untergangsszenario gestört, Krebszellen vermehren sich ungehemmt, sie sind quasi unsterblich. Dies sollen nun die Biomoleküle, die vom rund 20-köpfigen Team um Oliver Seitz hergestellt werden, ändern. Sie setzen den programmierten Zelltod wieder in Gang, das Tumorwachstum wird gebremst – eine verlockende Alternative etwa zu belastender Chemotherapie oder Bestrahlung. Denn die neue Therapie wirkt nur auf die kranken Zellen, die gesunden bleiben unbeeinflusst und haben nicht unter Nebenwirkungen zu leiden.
Vision einer neuartigen Therapie
Das klingt zunächst utopisch. Oliver Seitz spricht zwar von der „Vision einer neuartigen Therapie“, aber der 49-jährige Forscher steht mit beiden Beinen auf dem Boden der chemischen Tatsachen. In zellfreien Systemen, in Reagenzgefäßen etwa, in die der flüssige Inhalt von Zellen eingebracht wurde, habe es schon funktioniert, sagt der gebürtige Frankfurter, der seit 2003 den HU-Lehrstuhl für bioorganische Synthese besetzt. Die Enzyme, die den programmierten Zelltod steuern, konnten aktiviert werden. Als Nächstes stehen Experimente in Zellkulturen an. Dann kämen Versuche mit krankem Gewebe, Tierversuche und letztlich Medikamententests. Doch das ist Zukunftsmusik, die der Forscher jetzt nicht anstimmen will.
„Ich will bescheiden bleiben“, sagt Seitz, auch wenn es um den hochkarätigen Preis des Europäischen Forschungsrates, den ERC Advanced Grant 2014, geht, den er Anfang Juli 2015 erhalten hat. Dadurch wird seine Forschung fünf Jahre lang mit insgesamt 2,5 Millionen Euro gefördert. Voraussetzung für die Vergabe des Preises ist eine „herausragende Erfolgsbilanz und ein ehrgeiziges, wegbereitendes und unkonventionelles Forschungsvorhaben“. Es soll also Forschung unterstützt werden, die neue Wege geht.
Und wenn es schiefgeht? Seitz lacht. „High gain, high risk“, sagt der Vater zweier Jungen, der Musik und Natur liebt und sich nach Stationen in Mainz (Studium und Promotion), Dortmund (Habilitation) und San Diego (Postdoc) in Adlershof wohlfühlt. Zwar wäre der Standort Mitte wegen der fachlichen Nähe zu den dort angesiedelten Lebenswissenschaften für seine Gruppe vorteilhafter. Andererseits gefällt ihm die „Boom-Atmosphäre“ in Adlershof, die wachsende Zahl von Unternehmen und Instituten.
Von Paul Janositz für Adlershof Journal