„Netzer, Weisweiler und die Unschärfe”: Alles eine Frage des Vertrauens
Essay von Dr. Reinhard K. Sprenger, Führungsexperte und Managementautor
Für viele immer noch das Jahrhundertspiel, zugleich die wohl dramatischste Führungssituation im deutschen Fußball: Pokalendspiel 1973 zwischen Borussia Mönchengladbach und dem 1. FC Köln. Günter Netzer sitzt auf der Bank nach monatelangen Querelen mit seinem Vorgesetzten und Trainer Hennes Weisweiler. Beim Stande von 1:1 wird er von seinem Chef angewiesen, auf den Platz zu gehen. Netzer weigert sich. Einige Minuten später wechselt er sich selbst ein. Weisweiler schaut weg, lässt es geschehen. Netzer stürmt nach vorne, die blonde Mähne weht wie eine Fahne hinter ihm her, erster Ballkontakt, Schuss, er trifft den Ball nicht richtig, dennoch: Tor, Pokalsieg. Ein Modell fürs Management?
In dieser Frage bündelt sich vieles, was in den Unternehmen diskutiert wird. Die Märkte sind unruhiger als je zuvor, das wird sich künftig noch verstärken. Der Einzelne kann die Komplexität kaum mehr bewältigen, muss sich auf andere stützen. Kann man als Chef noch den Durchblick haben, oder reicht der Überblick? Ist es überhaupt noch möglich, die Komplexität „im Griff“ zu haben? Klar ist: Personaleinsatz ist keine Top-down-Entscheidung mehr; der Mitarbeiter muss selbst initiativ werden, sich selbst gleichsam „einwechseln“. Und auch das Entweder-oder hat ausgedient; es muss durch ein Sowohl-als-auch ersetzt werden. Dafür ist Ambiguitätstoleranz unabdingbar, die Fähigkeit mit Unklarheit und Unschärfe umzugehen.
All das hat Konsequenzen für die innere Verfasstheit von Organisationen. Ein hoher Vertrauenspegel ist wichtig, wenn auch begrenzt auf bestimmte Gegenstände und Themen. Nicht überall zu gleicher Zeit, nicht immer in gleichem Maße, nicht überall und undifferenziert im ganzen Unternehmen – ein generalisiertes Maximalvertrauen ist naiv. Viele Regeln sollten zudem eher den Charakter von Richtlinien haben, die begründete Ausnahmen zulassen. Es gibt Situationen, in denen man sie brechen sollte. Es geht gar nicht anders: Das moderne Unternehmen darf und muss darauf vertrauen, dass die Mitarbeiter mit Regeln vernünftig umgehen, sie klug interpretieren (früher hätte man für „shades of grey“ votiert). Es ist kein Zufall, dass der „Dienst nach Vorschrift“ mit einem Streik gleichzusetzen ist. Eine Organisation wäre völlig paralysiert, wenn es keine Interpretationsspielräume gäbe; sie könnte am Markt nicht überleben.
Der profitorientierte Kundennutzen ist dabei die Richtlinie. Allerdings: Der Raum der Selbsterhaltungsvernunft darf nicht verlassen werden. Mit einer Zehn-Prozent-Unschärfe müssen wir jedoch leben, wenn wir nicht starr und unflexibel werden wollen. Es ist jedenfalls besser, einigen Mitarbeitern mal auf die Finger zu hauen, als alle Mitarbeiter in Sippenhaft zu nehmen und mit einem Regelungsnetz zu überziehen. Das macht das Unternehmen nur langsam und unflexibel. Grundsätzlich aber sollte man sehr zurückhaltend sein, jedes Gestaltungsproblem mit einer Richtlinie zu erschlagen. Je mehr Regeln es gibt, desto mehr bringt man die Menschen in Dilemmata, nötigt man sie gar, Regeln zu übertreten. Das ist als sich selbst erfüllende Prophezeiung wohl bekannt.
Für die Unschärfe braucht es Urteilskraft und Mut. Urteilskraft für das Spezielle der Situation. Mut zum Handeln in Unsicherheit. Und dieser Mut ist ohne ein hohes Maß an Selbstvertrauen nicht zu haben. Netzer wusste: Sezession – das war schon immer die Bedingung des Erfolges. Was Weisweiler wusste: Führung sollte nur dann eingreifen, wenn sie es mit Blick auf die Überlebensfähigkeit des Unternehmens nicht lassen kann.
Dr. Reinhard K. Sprenger ist Führungsexperte und Managementautor. Er lebt in Winterthur, Schweiz, und Santa Fe, New Mexico. Jüngste Buchveröffentlichung: „Magie des Konflikts“ (DVA-Verlag).