Es war wie ein Punkt null
Produktionsfirma „Filmgarnitur“ realisiert kreative, sehr persönliche Projekte
Sven Michael Otto und Christoph Rohrscheidt gründeten die Produktionsfirma „Filmgarnitur“ kurz vor der Pandemie. Im Nachhinein eine große Chance für kreative, sehr persönliche Projekte.
Manchmal ist das Leben ein Selbstläufer. Seit über 15 Jahren arbeiteten Produzent Sven Michael Otto und Kameramann Christoph Rohrscheidt Hand in Hand. Als sie zum 500. Jahrestag der Reformation einen Imagespot produzieren sollten, gründeten sie die „Filmgarnitur“.
Die Räumlichkeiten der Firma in Adlershof gehen auf die Anfänge des DDR-Fernsehens zurück. In ihrem heutigen Schnitt- und Tonstudio entstand die Jugendsendung „Elf 99“ unter „Lewald TV“. Otto führte die Firma weiter und konnte so auf umfangreiches Kamera-, Licht- und Tonequipment zurückgreifen. Ein großer Vorteil, der den beiden half, Projekte schnell umzusetzen.
Ein Zufall brachte Rohrscheidt zum Dokumentarfilm „Dazwischen Elsa“. Der Kameramann und seine Frau, die Regisseurin Katharina Pethke, benötigten in Hamburg eine Betreuung für die dreijährigen Zwillinge und gaben eine Anzeige auf: „Junge Eltern und Filmschaffende suchen Mitbewohnerin. 30 Stunden Babysitting gegen kostenfreies Wohnen“. Die 21-jährige Elsa bewarb sich und bekam den Job. Ein Jahr nach dem Abitur wusste Elsa noch nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte: dem Wunsch der Eltern nachgehen und studieren oder ihrem Freund ins Ausland folgen? Rohrscheidt und Pethke hielten Elsas Weg fest. Der Film lief in der ZDF/3sat-Reihe „Ab 18!“ und wurde für den Grimme-Preis nominiert.
Im September 2019 feierte der Kunstfilm „Being Human“ auf der 58. Biennale in Venedig Premiere, dann kam die Pandemie. „Die Welt war ausgebremst. Es war wie ein Punkt null,“ erinnert sich Rohrscheidt. Dann, so Otto, „haben wir uns kurz geschüttelt und gesagt: Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um Neues zu entwickeln.“ Auf einen Aufruf für neue Autoren und Regisseure bekamen Otto und Rohrscheidt überwältigendes Feedback. In Hunderten von Onlinemeetings entstanden neue Projektideen, Recherchereisen wurden geplant.
Als die Kindergärten 2020 geschlossen wurden, machte Rohrscheidt seine mittlerweile siebenjährigen Zwillinge in dem selbstproduzierten dystopischen Filmessay „Neowise“ zu Protagonisten. „Die Kinder wandeln an leeren Autowaschsalons vorbei hin zu einem tropischen Dschungel und suchen den Kometen Neowise. Man weiß nicht, ob es das Ende oder der Anfang der Welt ist.“ Dass die Pandemie im Hintergrund mitschwingt, sei augenscheinlich.
Was all diese Veränderungen psychisch mit uns machen, darüber werde eher weniger gesprochen, findet Otto. Eine Reitfreundin seiner 15-jährigen Tochter nahm sich das Leben, ihn berührte das zutiefst. Er nahm Kontakt zur Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. auf und fragte nach: Wie geht es den Menschen jetzt? Die 45-minütige Dokuserie „Distanz“ wird demnächst produziert und soll die erschütternde Wahrheit hinter den Fassaden zeigen: „Die Fliehkräfte unserer rotierenden Wirtschaft, ein grassierendes Virus in unseren Atemwegen, eine Zersplitterung unseres privaten Raums in Nullen und Einsen, dies alles hat Menschen ins Abseits geschoben. ,Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich im Umgang mit ihren schwächsten Mitgliedern‘, sagte einmal Helmut Kohl. Wir wollen das anklagen.“ Der Dreiteiler erzähle von Menschen, die auf der Flucht vor sich selbst sind und in einer psychischen Krise stecken, erklärt Sven Michael Otto.
Rohrscheidt und Otto wissen: Die Pandemie ist ein zweischneidiges Schwert. Doch für sie war sie auch der Beginn von etwas Wunderbarem: Der Gründung ihrer gemeinsamen Firma, der sie sich mit ganzer Leidenschaft widmen.
Von Susanne Gietl für Adlershof Journal