Atome 100-millionenfach vergrößert
Kristalle aus Adlershof ermöglichen Weltrekord für Abbildung mit Elektronenmikroskop
Wie große Kunst wirkt dieses Bild. Aus dem Dunkel strahlen – streng geordnet in waage- und senkrechten Linien – rote und gelbe Punkte, mal einfach, mal doppelt leuchtend. Angefertigt wurde das Bild jedoch nicht mit Pinselstrichen im Atelier, sondern mit dem Elektronenmikroskop an der Cornell Universität in Ithaka, New York, von einem internationalen Forscherteam um Physikprofessor David Muller. Seinen Wert gewinnt das strahlend schöne Bild somit durch eine wissenschaftliche Leistung, die vor kurzem ins Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen wurde.
„Es handelt sich um die weltweit höchste Auflösung, die bisher ein Elektronenmikroskop mithilfe von Algorithmen erreichen konnte“, sagt Matthias Bickermann, stellvertretender Direktor des Leibniz-Instituts für Kristallzüchtung im Forschungsverbund Berlin e. V. (IKZ) in Adlershof und Leiter der Abteilung Volumenkristalle. Der Werkstoffwissenschaftler, der auch an der Technischen Universität Berlin Kristallzüchtung lehrt, hat mit seinem Team das entscheidende Material für diesen Weltrekord hergestellt. „Wir haben den Praseodym-Scandium-Oxid-(PrScO3-)Kristall gezüchtet“, sagt Bickermann. Dieser Kristall weist eine „Perowskit-Struktur“ mit nahezu kubischer Anordnung auf. Eine besondere Herausforderung für die Abbildung ist der winzige Abstand zwischen zwei Praseodym-Atomen, der nur 59 Pikometer (milliardstel Millimeter) beträgt.
Zur Untersuchung des PrScO3-Kristalls hat das Cornell-Team eine spezielle Aufnahmetechnik verwendet und verfeinert. Sie funktioniert, indem mehrere zueinander verschobene Aufnahmen mit einem Flächendetektor ausgewertet werden. Die Elektronenstrahlen treffen dabei in verschiedenen Winkeln auf die Atome, so dass unterschiedliche Beugungsbilder entstehen, aus denen ein Bild der gesamten Probe errechnet wird. Bisher wurden derartige Berechnungen noch nie mit solchen Datenmengen durchgeführt.
Letztlich schafften es die Forschenden, die Atome 100-millionenfach vergrößert darzustellen. Voraussetzung für das Gelingen war allerdings ein perfekt gebauter Kristall. Als Lieferant kam da nur das IKZ in Frage. „Kristalle mit Perowskit-Struktur züchten wir seit etwa 25 Jahren“, sagt Bickermann. Perowskite werden beispielsweise für mikroskopische Stellglieder, Solarzellen, Supraleiter oder neue RAM-Speicher verwendet. Auch mit der Cornell University kooperiert das IKZ seit langem. Da kam der PrScO3-Kristall ins Spiel, der am IKZ mit der nötigen Reinheit und Perfektion gezüchtet wird.
Zuständig für die Züchtung ist das zwölfköpfige Team der IKZ-Sektion „Oxide & Fluoride“ unter Bickermanns Leitung. Derzeit arbeiten hier zwei Doktoranden, fünf Wissenschaftler/-innen und fünf Techniker/-innen zusammen. „Das Technikteam züchtet die meisten Kristalle“, sagt Bickermann. Das Wissenschaftsteam erforscht vor allem die Züchtung neuer Materialien. In der Science-Veröffentlichung zur weltrekordreifen Kristallstruktur-Untersuchung werden die IKZ-Technikerin Isabel Hanke und der Physiker Steffen Ganschow erwähnt.
Die Beschäftigung mit Kristallen scheint jedenfalls faszinierend zu sein, auch außerhalb des oft funkelnden, glitzernden Aussehens. Kristalle bilden die Grundlage vieler technischer Produkte, in Smartphones wie auch in Computerchips. „Das macht einen stolz, an der Basis dabei zu sein.“ Den Materialwissenschaftler fasziniert auch die perfekte Ordnung, in der die Atome angeordnet sind. „Kristalle lassen sich in die Hand nehmen, sie haben etwas Haptisches“, sagt Bickermann. Das sei mehr, als Forschende heutzutage in der Wissenschaft oft haben, etwa wenn sie sich mit Quantenmaterialien oder mit Software beschäftigen.
Paul Janositz für Adlershof Journal