„Ach, dafür haben Sie Zeit?“ Ganz genau, und ich sage Ihnen jetzt auch, warum
Essay von Josef Zens, Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ, Helmholtz-Zentrum Potsdam
Das mit Corona ist schwierig. Womöglich steckt Bill Gates dahinter, der ohnehin die Weltgesundheitsorganisation kontrolliert, um überall auf der Welt Menschen zwangsimpfen zu lassen. Er will uns allen Microchips implantieren. Es könnte auch sein, dass „die Chinesen“ mit Viren experimentiert haben und SARS-CoV-2 aus einem Labor in Wuhan freigesetzt wurde. Auf jeden Fall aber nutzt die Bundesregierung die Pandemie, um die Demokratie auszuhebeln. Sie schreckt dabei nicht davor zurück, eine Maskenpflicht bei einer an sich harmlosen Erkrankung einzuführen, obwohl doch schon Kinder durch das Masketragen gestorben sind.
All das sind Behauptungen, die im Internet kursieren, zum Teil von namhaften Forschenden unterstützt, und millionenfach geteilt werden. Immer wieder berufen sich Demonstrierende gegen die Coronamaßnahmen auf die ein oder andere Aussage.
Soll man sich jetzt darüber lustig machen? Oder sich die Mühen machen, alle oben aufgeführten Behauptungen als das zu entlarven, was sie sind: Fake News, Falschaussagen, Verschwörungserzählungen? Das „Debunking“, wie die Entlarvung auf Englisch so schön heißt, ist wichtig und notwendig. Damit ist es jedoch nicht getan. Es gibt solche verqueren Weltbilder ja nicht erst seit Corona. „Chemtrails“ heißen die Kondensstreifen von Flugzeugen in bestimmten Kreisen. Sie enthalten angeblich Stoffe, die uns gefügig machen sollen. Zu abgedreht? Was ist mit Chlorbleiche (MMS) gegen Autismus? In Frankfurt an der Oder gab es an der Europa-Universität Viadrina ein „Institut für transkulturelle Gesundheitswissenschaften“, das mit hanebüchenen Masterarbeiten (unter anderem zu einem „Kozyrev-Spiegel“, der Hellsehen und Kontakt zu Toten ermögliche) Schlagzeilen machte.
Wer das als „Alle bekloppt“ abtut, verkennt, dass es oft höher Gebildete sind, die an Verschwörungsmythen glauben. Für mich ist jeder einzelne dieser Menschen auch eine Mahnung an Forschende und deren Institutionen, verantwortungsvolle Wissenschaftskommunikation zu betreiben. Da reichen keine Talkshows und kein cooler YouTube Channel über Wissenschaft. Da hilft keine charismatische Wissenschaftlerin, egal ob Nobelpreis-gekürt oder nicht, die all den Humbug öffentlich verurteilt. Da hilft keine Skeptiker-Bewegung. Das ist alles zu spät, weil die Weltbilder längst verfestigt sind.
Schule hilft. So wie in den Schulen mehr und mehr „Media Literacy“ (Medienkompetenz/Anm. d. Red.) gelehrt wird, sollte auch „Scientific Literacy“ ins Curriculum. Das heißt konkret: Lehrkräfte aus- und weiterbilden und ihnen zeigen, wie Wissenschaft heute geht. Wissenschaftler/-innen in Kindergärten und Schulen schicken und den Kindern die wissenschaftliche Methode nahebringen. Und zugleich darauf achten, sich nicht über Wunderglauben – sei er nun katholisch, anthroposophisch oder verschwörungsmythisch – lustig zu machen.
Nur hilft uns das jetzt nicht weiter, wenn Corona grassiert. Wenn Gurus und Querdenker auftreten und gegen „die Wissenschaft“ hetzen. Wenn Forschende bedroht werden, weil sie aufklären, und so zermürbt werden, dass sie mit ihrer öffentlichen Kommunikation aufhören.
Fazit: Klassische Aufklärung hilft nur bedingt, weil die Weltbilder zu verfestigt sind. Viel wichtiger ist es, die Menschen ernst zu nehmen. Auch wenn sie einem närrisch vorkommen. Das heißt, immer wieder diskutieren, immer wieder Wissenschaft mitsamt dem Prozess des Forschens, Zweifelns und Validierens transparent machen – und zwar durch die Forschenden selbst. Dafür müssen sie belohnt und nicht von der eigenen Leitung bestraft werden: „Ach, dafür haben Sie Zeit?“ Genau! Die Antwort lautet: „Ja, dafür brauche ich Zeit!“