Künstlich verdrehte kristalline Strukturen am IKZ erzeugt
Neuartige komplexe Kristallstrukturen erweitern die Möglichkeiten der modernen Materialwissenschaft

Mittels Layer-Transfer lassen sich neuartige, komplexe Kristallstrukturen erzeugen, die mit herkömmlichen Methoden nicht realisierbar sind. Dies gilt insbesondere für verdrehte kristalline Oxidstrukturen. Die mikroskopische Struktur dieser verdrehten Kristalle wird mithilfe von Synchrotronstrahlung detailliert untersucht. Dabei erscheint das kristalline Übergitter als ein Array zusätzlicher Beugungsreflexe. Diese Technologie ermöglicht neue Materialeigenschaften und erweitert die Möglichkeiten der modernen Materialwissenschaft.
Moderne Technologien erfordern immer leistungsfähigere funktionale Materialien. Kristalline Materialien zeichnen sich durch eine hochgeordnete atomare Struktur aus und sind essenziell für zahlreiche Anwendungen. Sie existieren in zwei Hauptformen: als Volumenkristalle oder als dünne epitaktische Schichten.
Am Leibniz-Institut für Kristallzüchtung (IKZ) werden Volumenkristalle für spezifische Anwendungen gezüchtet, darunter Festkörperlaser, Hochtemperatur-Piezoelektrika und einkristalline Substrate. Diese Substrate sind notwendig für die nachfolgende heteroepitaktische Dünnfilmabscheidung, die als Basis für mikroelektronische Bauelemente dient.
Neben dem Volumenkristallwachstum betreibt das IKZ die Heteroepitaxie, ein Verfahren zur Dünnfilmabscheidung, bei dem die Schicht die kristalline Orientierung des Substrats übernimmt. Die Dicke der Filme variiert von wenigen Nanometern bis zu mehreren Mikrometern. In der Epitaxie können zusätzliche Konzepte zur Modifikation der Materialeigenschaften genutzt werden, die beim Volumenkristallwachstum nicht umsetzbar sind. Beispielsweise kann die Verspannung dünner Filme genutzt werden, um die ursprüngliche Kristallsymmetrie zu brechen und so Ferroelektrizität zu induzieren. Eine weitere Strategie besteht in der Erzeugung vertikaler Übergitter, also Mehrschichtstrukturen mit wiederholten Schichtfolgen (z.B. A-B-A-B ...). Diese erweitern den Parameterraum für Materialeigenschaften und ermöglichen neue emergente Effekte wie sogenannte “polare” Wirbel.
Als dritte Säule des Kristallwachstums hat das IKZ kürzlich die “2D goes 3D”-Strategie eingeführt. Diese basiert auf der Übertragung und Stapelung kristalliner Schichten. Dabei werden freistehende Schichten nicht auf ein bestehendes Substrat aufgewachsen, sondern separat hergestellt und anschließend transferiert. Dadurch lassen sich bestimmte Einschränkungen der Heteroepitaxie überwinden, beispielsweise die Notwendigkeit der Gitterparameteranpassung und Symmetrie oder andere thermodynamische oder kinetische Einschränkungen wie eine hohe Wachstumstemperatur. Dies ermöglicht die Herstellung künstlicher kristalliner Strukturen durch Layer-Bonding.
Das Stapeln freistehender Membranen ermöglicht die Erzeugung innovativer Grenzflächen, die über die Möglichkeiten der klassischen Heteroepitaxie hinausgehen. Besonders bemerkenswert sind verdrehte Grenzflächen, sogenannte Moiré-Materialien. Diese bilden ein laterales kristallines Übergitter aus und können neue physikalische Eigenschaften aufweisen, die in den einzelnen Schichten nicht vorhanden sind. Moiré-Materialien stellen somit eine neuartige Klasse von Materialgrenzflächen dar, bei denen (opto-) elektronische Eigenschaften durch den Verdrehungswinkel der angrenzenden kristallinen Oberflächen gezielt abgestimmt werden können. Während diese Technik bereits seit einigen Jahren für das Bandstruktur-Engineering in zweidimensionalen (2D) Van-der-Waals-Materialien wie Graphen genutzt wird, gewinnen sie nun auch für oxidbasierte Perowskite wie SrTiO3 an Bedeutung. Im Gegensatz zu Van-der-Waals-Materialien, bei denen Verspannung und Strukturrelaxation aufgrund der schwachen Wechselwirkungen nur eine untergeordnete Rolle spielen, führt die starke Bindung in oxidischen Perowskiten zu ausgeprägten strukturellen Rekonstruktionen und Spannungsfeldern. Freistehende Oxidperowskite, die über den Opferschichtansatz zugänglich sind, eröffnen damit neue Möglichkeiten für oxidbasierte Moiré-Materialien.
Eine verdrehte Grenzfläche mit starker Interlagen-Wechselwirkung kann als “twist boundary” (verdrehte Korngrenze) beschrieben werden. Eine solche ideale Twist-Korngrenze resultiert in einem Schraubenversetzungsnetzwerk in der Ebene. Versetzungen sind lineare kristalline Strukturen mit von der Umgebung abweichender atomarer Ordnung. Obwohl sie oft als Defekte gelten, können sie neue Funktionalitäten ermöglichen. Analog zu Moiré-Materialien wird der Abstand zwischen Versetzungslinien durch den Verdrehwinkel zwischen den benachbarten kristallinen Grenzflächen bestimmt (sowie den Unterschied der Gitterkonstante im Falle unterschiedlicher Materialien). In oxidbasierten Perowskiten sind die daraus resultierenden Spannungsgradienten besonders interessant, da sie die Oberflächenpolarisation und feine Strukturveränderungen, wie die Neigung der Sauerstoffoktaeder, beeinflussen.
Im Rahmen des DFG-Projekts “nano-twist” hat das IKZ ein Transferbonding-Verfahren entwickelt, das eine verlustfreie Bindung einer freistehenden SrTiO3-Schicht an einen SrTiO3-Einkristall ermöglicht. Die nm-dünne Schicht bleibt dabei intakt, indem zunächst ein Wafer-Bonding-Prozess bei hoher Temperatur durchgeführt und erst danach die Opferschicht aufgelöst wird.
Die verdrehte SrTiO3/ SrTiO3-Grenzfläche wird mit Röntgenbeugung in streifender Einfallsgeometrie untersucht. Es zeigen sich deutliche Hinweise auf ein hochperiodisches laterales Übergitter, das mit einem Schraubenversetzungsnetzwerk konsistent ist. Diese Arbeiten zeigen einen vielversprechenden Weg zur Herstellung verdrehter Perowskite auf und könnten die Grundlage für eine neue Materialplattform mit nanometergenauen Spannungsgradienten bilden.
“Twisted Perovskites” sind nur der erste Schritt der “2D goes 3D”-Strategie des IKZ zur Erzeugung künstlicher kristalliner Strukturen mittels Layer-Transfer. Zukünftig soll dieses Konzept auf weitere Materialien und Materialkombinationen ausgeweitet werden.
Wir danken dem Paul-Drude-Institut für die Zusammenarbeit an der Pharao-Beamline (BESSY II), PETRA III (DESY Hamburg) für Strahlzeit P08 (R-20241264) und ESRF für Strahlzeit (Experiment HC-5796). Unser Dank gilt auch der DFG für die Förderung des Projekts “nano-twist” (MA 9075/1-1, SCHW 1500/9-1) sowie dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE, Projektnummer 1.8/15).
Kontakt:
Dr. Jens Martin
Leibniz-Institut für Kristallzüchtung (IKZ)
+49 30 246499-301
jens.martin(at)ikz-berlin.de
www.ikz-berlin.de
Pressemitteilung IKZ vom 11.03.2025