Im Zeitalter der Nebenwirkungen
Am 7. Januar 2021 öffnet das Humboldt Labor im Humboldt Forum. Mit von der Partie: Forschung aus Adlershof
Ein Denkraum, ein kollaboratives Forschungsprojekt, ein Ort, an dem Wissenschaft und Zivilgesellschaft in Dialog treten: Am 7. Januar 2021 öffnet das Humboldt Labor in Berlin-Mitte seine Pforten. Aus einem gut zwei Jahre währenden Gedankenaustausch mit Forschenden der Berliner Exzellenzcluster sowie dem Integrative Research Institute on Transformations of Human-Environment Systems (IRI THESys) hat das Kuratorenteam um Gorch Pieken die Eröffnungsausstellung „Nach der Natur“ destilliert. Im Fokus der Ausstellung: Klimaveränderungen, komplexe Mensch-Umwelt-Beziehungen und die Rolle der Wissenschaft im 21. Jahrhundert.
Im Foyer des Humboldt Labors lässt sich hinter den Vorhang blicken, eintauchen in die Untiefen und Stromschnellen wissenschaftlicher Diskurse. Sechs Meter hoch und zwölf Meter breit sind die von einem virtuellen Fischschwarm beschwommenen Stoffbahnen, die den Weg ins Herz der Ausstellung weisen. Dass Gäste hier aktiv ins Geschehen eingreifen, setzt der Schwarm ins Bild. „Je nachdem, wie die Besucherinnen und Besucher sich verhalten, können sie beruhigend auf ihn einwirken oder die Fische in Unruhe versetzen, bis hin zu Panikreaktionen“, erklärt Gorch Pieken. „Das ist ein einfaches Bild, das uns sagt: Was wir tun, hat Auswirkungen auf die uns umgebende Welt. Damit gleiten wir fast unmerklich hinüber in die Welt der Wissenschaft.“
Eben jene zeigt hinter dem Vorhang auf Bildschirmen ihr hauptstädtisches Gesicht: Von der Schwarmintelligenz bis hin zur Steuerung von Menschenschwärmen mittels intelligenter U-Bahn-Taktung stellen hier Forschende aus den sieben Berliner Exzellenzclustern ihre Arbeit vor. Und auch wenige Meter weiter, im Hauptsaal des Humboldt Labors, präsentiert sich Berliner Wissenschaft interaktiv und digital: Rollos fahren aus der Decke, werden zu Wissenschaftswänden, auf denen Forschende des Clusters „Anfechtungen der liberalen Gesellschaftsordnung“ (SCRIPTS) und aus dem IRI THESys, darunter auch vier Wissenschaftler aus Adlershof, zu Gegenwartsthemen Stellung nehmen. Es geht um Klimaveränderungen in mehrfacher Hinsicht – bedingt durch Umweltzerstörung und als direkte Folge von Rassismus, Chauvinismus, Autoritarismus.
„Das 21. Jahrhundert ist ein Zeitalter der Nebenwirkungen“, zitiert Pieken die These des Philosophen Peter Sloterdijk, die im Beitrag des Geographen Philippe Rufin zu einem anschaulichen Bild kommt. Rund zwei Drittel aller Flüsse weltweit, berichtet der Postdoktorand, seien heute von Staudämmen beeinträchtigt, die eine Bewässerung von Agrarland und die Erzeugung von Wasserkraft ermöglichen sollen. In tropischen Regionen kann die Zersetzung von gefluteten Wäldern große Mengen an Treibhausgasen freisetzen, die positive Emissionsbilanzen zunichtemachten. Auch würden große Dämme zuweilen als geopolitische Machtmittel genutzt, um die Kontrolle an Wasserressourcen zu sichern. „Diese Großprojekte stoßen Nachhaltigkeits- ebenso wie Verteilungsfragen an.“
In die Methoden moderner Fernerkundung führen Geographieprofessor Patrick Hostert und Postdoktorand Marcel Schwieder in einer anderen Sequenz ein. „Satellitendaten sind heute flächendeckend in nie dagewesener zeitlicher und räumlicher Auflösung frei verfügbar“, erläutert Schwieder. „Damit können wir Veränderungen der Vegetation oder auch in Anbaustrukturen dokumentieren, und basierend darauf beispielsweise Fragestellungen hinsichtlich der Biodiversität in Agrarlandschaften untersuchen.“ Notwendig stießen die hier zu Tage tretenden Trends kontroverse Diskussionen an, müssten doch Weltbevölkerungswachstum, Ernährungssicherheit, Umweltauswirkungen und die freiheitliche Grundordnung westlicher Gesellschaften gemeinsam verhandelt werden.
Anhand weiterer Beispiele wie des Telecoupling-Projekts von Professor Jonas Nielsen, das globale Auswirkungen lokaler, politischer Entscheidungen aufzeigt, fügt die Ausstellung so Daten, Waren- und Informationsströme zu einem Mosaik unserer Zeit, entwirft das Porträt einer engmaschig vernetzten Welt, die einfache Antworten verwehrt. „Darauf möchten wir aufmerksam machen und Verständnis erzeugen für die Komplexität und Ambivalenz und dabei Wissen demokratisieren“, sagt Gorch Pieken, „sowie die jährlich erwarteten rund drei Millionen Besuchenden auch an den wissenschaftlichen Debatten der Ausstellung beteiligen.“ So können diese über die interaktive Forschungswand mit Forschenden in Kontakt treten, Stellung nehmen zu Themen wie Mobilität, Nachhaltigkeit und Verzicht. „Es kann gut sein, dass dabei neues Wissen entsteht und in die Universitäten zurückspiegelt.“
Von Nora Lessing für Adlershof Journal