Die nördliche Eiskappe des Mars ist jung
Geophysikalische Untersuchungen liefern überraschende Ergebnisse
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Um herauszufinden, wie der felsige Mantel unter den Kontinenten der Erde beschaffen ist, nutzen Forschende einen geophysikalischen Trick: Sie messen, wie schnell sich große Landflächen, die während der letzten Eiszeit vor etwa 20.000 Jahren von kilometerdickem Eis bedeckt waren, noch heute anheben. Die massive Eisschicht drückte damals die Erdoberfläche nach unten. Nach dem Abschmelzen des Eisschildes begann sich die Oberfläche langsam wieder zu heben. Dieser als glaziale isostatische Anpassung bekannte Prozess lässt sich bis heute in Skandinavien beobachten, wo sich die Landoberfläche um bis zu einem Zentimeter pro Jahr hebt. Diese Bewegung liefert wertvolle Erkenntnisse über den inneren Aufbau unseres Planeten. Solche Phänomene auf anderen Himmelskörpern blieben bisher unerforscht – bis jetzt: Dr. Adrien Broquet vom Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) hat in einem Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Planetenforschung ein vergleichbares Phänomen auf dem Mars untersucht. Diese Forschung ermöglicht es dem Team, mehr über die innere Struktur des Roten Planeten zu erfahren und das Alter seiner nördlichen Polkappe zu datieren.
Der Nordpol des Mars ist von einer Eisschicht bedeckt, die rund 1.000 Kilometer breit und drei Kilometer dick ist und hauptsächlich aus reinem Wassereis besteht. „Die Berechnung der durch die Eisschicht verursachten Deformationen am Nordpol des Mars ist entscheidend, um die innere Struktur des Planeten zu bestimmen“, erklärt Adrien Broquet vom DLR-Institut für Planetenforschung. Gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen untersuchte er die Entstehung dieser Eisschicht. Dazu kombinierten sie geophysikalische Modelle zur thermischen Entwicklung des Mars mit Berechnungen zur glazialen isostatischen Anpassung sowie mit Daten aus Gravimetrie-, Radar- und seismischen Messungen. Die Ergebnisse dieser Analysen wurden heute in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht. „Wir zeigen, dass die Eisschicht den darunterliegenden Boden mit einer Rate von bis zu 0,13 Millimeter pro Jahr in den Mantel drückt“, so Adrien Broquet. „Die geringen Deformationsraten zeigen, dass der obere Mantel des Mars kalt, hochviskos und wesentlich starrer ist als der der Erde“, ergänzt Dr. Ana-Catalina Plesa, Geophysikerin am DLR und Mitautorin der Studie.
Die letzte Eiszeit liefert Einblicke in die Dynamik des Erdinneren
Die Oberflächen der Erde und anderer Gesteinsplaneten wirken sprichwörtlich „felsenfest“. Doch Ereignisse wie Vulkanausbrüche oder Erdbeben zeigen, dass unser Planet dynamisch ist. Unter der kalten und starren Kruste besitzen Gesteinsplaneten einen heißen und verformbaren Mantel. Ob es sich um die einzelnen Kontinentalplatten der Erde handelt, die sich als lithosphärische Blöcke wie Flöße aneinander vorbeibewegen, oder um die monolithische Kruste des Mars – beide deformieren langsam den darunterliegenden Mantel, um ein isostatisches Gleichgewicht zu erreichen.
Das isostatische Gleichgewicht der Kontinente wird seit mehr als einem Jahrhundert erforscht, indem die Veränderung der Eislast durch Gletscher und Eiskappen sowie die Reaktion der Erdoberfläche darauf untersucht werden. Die Geschwindigkeit der Landverformung ermöglicht es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sowohl die inneren Eigenschaften der Erde als auch die Form und Ausdehnung früherer Eisdecken zu bestimmen, die einst große Teile unseres Planeten bedeckten. Im Jahr 2002 wurden zwei Satelliten gestartet, um diesen Verformungsprozess im Rahmen des Gravity Recovery and Climate Experiment (GRACE, GRACE-FO und die geplante Erweiterung GRACE-C) zu untersuchen. Diese gemeinsame Mission von NASA und DLR misst, wie sich das Gravitationsfeld der Erde durch die Verformung des Planeteninneren verändert. „Die Beobachtung und das Verständnis der glazialen isostatischen Anpassung waren für die Erdwissenschaften von entscheidender Bedeutung – bisher jedoch nur für die Erde“, erklärt Adrien Broquet.
Zäh wie Vogelleim
Der Prozess der isostatischen Anpassung hängt stark von der Struktur und den Eigenschaften des Planeteninneren ab – insbesondere von einer physikalischen Größe namens Viskosität. Die Viskosität beschreibt, wie stark sich ein Material dem Fließen widersetzt. Sie wird sowohl durch die Materialart als auch durch die Temperatur beeinflusst. Honig und Kunststoff verformen sich beispielsweise bei hohen Temperaturen leichter und werden bei niedrigen Temperaturen steifer (haben eine höhere Viskosität). Das Wort „Viskosität“ leitet sich von der klebrigen Flüssigkeit der Mistelbeeren (Viscum) ab, aus der früher ein zäher Vogelleim hergestellt wurde – daher bedeutet „viskos“ so viel wie „zähflüssig wie Vogelleim“. Zum Vergleich: Die Gesteine des Erdmantels sind mehr als eine Billion Mal (eine Zahl mit zwölf Nullen) zähflüssiger als Asphalt, können sich aber dennoch über geologische Zeiträume hinweg verformen und fließen.
Eine Viskosität, die zehn- bis hundertmal höher ist als auf der Erde
In den Jahren 2003 und 2005 wurden mit Mars Express (ESA) und dem Mars Reconnaissance Orbiter (NASA) zwei Raumsonden zum Mars geschickt, die mit Radarmessgeräten ausgestattet waren. Diese erfassten die nördliche Polkappe des Mars und ermöglichten es, die Grenzfläche zwischen Eis und Gestein abzubilden. Überraschenderweise blieb die Marsoberfläche trotz der gewaltigen Eismassen nahezu unverformt – im Gegensatz zur Erde, wo riesige Eisdecken vor 20.000 Jahren die Oberfläche stark eindrückten. Warum die Marsoberfläche über so lange Zeit so starr und unverändert geblieben ist, war jahrzehntelang ein Rätsel.
Durch die Kombination von Radardaten mit Schätzungen des sich zeitlich verändernden Gravitationsfelds des Mars sowie mit Messungen des InSight-Seismometers konnten Broquet und sein Team nun eine Erklärung liefern: Die extrem hohe Viskosität und Kälte des Marsinneren haben bislang verhindert, dass sich die Oberfläche vollständig verformen konnte. Numerische Simulationen zeigen, dass sich der Boden am Nordpol des Mars derzeit mit einer Geschwindigkeit von maximal 0,13 Millimeter pro Jahr absenkt. Dies bedeutet, dass die Viskosität des oberen Mantels des Mars zehn- bis hundertmal höher ist als die der Erde – ein klarer Hinweis darauf, dass das Innere des Roten Planeten heute extrem kalt ist. „Obwohl wir davon ausgehen, dass der Nordpol des Mars kalt ist, zeigen unsere Modelle dennoch die Existenz lokaler Schmelzzonen im Mantel nahe dem Äquator“, erklärt Prof. Doris Breuer, eine weitere Mitautorin der Studie vom DLR. Das Marsinnere hält also einige Überraschungen bereit: Während die Kruste am Nordpol sehr kalt erscheint, gibt es in den äquatorialen Regionen noch Anzeichen jüngerer vulkanischer Aktivität.
Die Eiskappe am Mars-Nordpol ist deutlich jünger als jede andere geologische Struktur dieser Größenordnung auf dem Planeten. Mit einem geschätzten Alter von zwei bis zwölf Millionen Jahren ist sie vermutlich die jüngste und zugleich größte geologische Formation, die wir auf dem Roten Planeten beobachten können.
Die Arbeit von Broquet und seinem Team ist die erste, die eine glaziale isostatische Anpassung auf einem anderen Planeten dokumentiert. Dies hat weitreichende Auswirkungen auf unser Verständnis des Marsinneren und seiner geologischen Entwicklung. In den vergangenen Jahren wurden mehrere GRACE-ähnliche Gravimetrie-Missionen für den Mars vorgeschlagen, darunter Oracle und MaQuIs. Neben der Erforschung des Marsklimas haben künftige Gravimetrie-Missionen nun ein weiteres Ziel: präzisere Messungen der Hebungs- und Senkungsprozesse auf dem Roten Planeten zu liefern.
Weiterführende Links
- DLR-Institut für Planetenforschung
- Beitrag in der Fachzeitschrift Nature
- DLR-Sonderseite zur Mission Mars Express
- DLR-Sonderseite zur Mission InSight
- DLR-Nachricht: GRACE-C – deutsch-amerikanische Umweltmission geht in die Verlängerung
Kontakt
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Pressemitteilung DLR vom 26.02.2025