CHIC an der Gesundheitsfront
Vier Digital Health Start-ups bringen Lösungen auf den Markt, um die Arbeit im Gesundheitswesen effizienter zu gestalten und das Personal in Kliniken und Praxen zu entlasten
Das Gesundheitswesen leidet unter Fachkräftemangel, Kostendruck und lähmender Bürokratie. Digitale Prozesse könnten in Kliniken und Praxen einen Effizienzschub auslösen und das medizinische Fachpersonal von wiederkehrenden Aufgaben entlasten. Als Hoffnungsträger gelten auch Apps, die Patientinnen und Patienten über ihre Krankheit aufklären, bei deren Behandlung assistieren und so zu mehr Therapietreue verhelfen. Der Effekt: Sanftere Verläufe und schnellere Heilungsprozesse. Häufig stehen hinter solchen digitalen Ansätzen Digital Health Start-ups. Vier davon haben ihren Sitz im Charlottenburger Innovations-Centrum CHIC.
Mobile Health Solutions haben es Johannes Vegt schon vor Jahren angetan. Als Produktdesigner mit Spezialisierung auf User Interface Design erkannte der gebürtige Niederländer, dass nur gut gemachte Apps zur realen Hilfe für Patientinnen und Patienten werden können. „Wenn es an Usablity mangelt, fehlt die Akzeptanz“, sagt er. Und dann bleibt die App geschlossen, statt die Betroffenen über ihre Krankheit aufzuklären und sie als therapiebegleitendes Assistenzsystem regelmäßig an ihre Augentropfen, Medikamente oder den nächsten Eintrag in ihr Schmerztagebuch zu erinnern. „Gute Apps stellen die Eigenverantwortung und das Selbstmanagement in den Mittelpunkt“, sagt er.
Mittlerweile hat Vegt mit seiner appamedix UG diverse Auszeichnungen für die Usability ihrer Medizin-Apps erhalten, darunter auch die glaucare-App. Sie adressiert die Augenkrankheit „Grüner Star“, im Fachjargon Glaukom. Früh erkannt und regelmäßig mit Augentropfen behandelt, lässt sich die Krankheit in Schach halten. Doch vernachlässigen Betroffene die Behandlung, drohen schnell fortschreitende Sehverluste. Mit der glaucare-App fällt es leichter, die nötige Disziplin zu wahren. Verläufe sind milder und Komplikationen seltener, was unter dem Strich auch das Gesundheitssystem entlastet.
Seit dem App-Projekt kooperiert appamedix eng mit der glaucareGmbH. Als Nachbarn im CHIC arbeiten beide Start-ups aktuell an einer mobilen, digitalen Lösung für die Augenheilkunde, mit der sie Neuland betreten; ein Aufbruch in neue Märkte.
Der Aufbruch ist eng mit den gesetzlichen Rahmenbedingungen im deutschen und EU-Markt verknüpft, denen auch Digital Health Start-ups unterliegen. Die kurzen Wege im CHIC – beide Start-ups haben auch schon mit der hier tätigen StgilesmedicalGmbH zusammengearbeitet – sind die Ausnahme. Der Start in den hoch regulierten Gesundheitsmarkt gleicht eher einer Langstrecke mit vielen bürokratischen Hürden und regulatorischen Fußfesseln.
Auf Erfolgspfad im Dschungel der Normen und Standards
Das klingt abschreckend, birgt aber Chancen. Wenn sie das nötige Know-how für regelkonforme IT-Entwicklungsprozesse aufbauen, können sich Start-ups im Gesundheitsmarkt etablieren. Das ist der Curamatik GmbH, die ihren Sitz ebenfalls im CHIC hat, bereits gelungen. Das Team um Geschäftsführer Dr. Sebastian Ahrndt, zählt Krankenkassen, Bundesministerien, den digitalen Arm des European Institute of Innovation & Technology (EIT Digital) oder auch für HealthCare-Unternehmen aus dem In- und Ausland zu seiner Kundschaft. In heißen Projektphasen zieht Curamatik bis zu 15 feste und freie Beschäftigte zusammen
Seit seiner Gründung Mitte 2015 konnte das Start-up zahlreiche dauerhafte Kundenbeziehungen aufbauen. „Wir sind kein Produkt-Start-up, sondern ein Dienstleister, der im Kundenauftrag Apps, Webportale und -anwendungen oder Software als Medizinprodukte (SaMD) herstellt“, erklärt Ahrndt. Dabei gelte es, zahlreiche Normen und Standards einzuhalten. Jeder Arbeitsschritt, jede Funktion und jedes Design geplanter medizinischer Apps müsse spezifiziert und validiert werden. Auch gibt es strenge Meldepflichten. So müssen im Betrieb neben wesentlichen Veränderungen auch geringfügige redaktionelle Anpassungen bis hin zum ergänzten Komma beim zuständigen Bundesamt angezeigt werden. Für Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) gelten besonders strenge Regel, weil sie die Zulassung als Medizinprodukte benötigen, damit die Kassen die Kosten übernehmen. Das treibt den Aufwand für ihre regelkonforme Herstellung, Zulassung und den Betrieb: Laut Ahrndt sollten für solche Projekte zwei Jahre und zwei bis drei Millionen Euro Budget eingeplant werden. Sein Team setzt solche Projekte um. Und es berät auch internationale Unternehmen, die digitale Medizinprodukte im deutschen und europäischen Markt anbieten wollen.
Lücken im Gesundheitsnetz flicken
Angefangen hat alles mit einem Projekt in Brandenburg. Weil Ärztinnen und Ärzte auf dem Land knapp und oft überlastet sind, dürfen sie medizinische Fachkräfte dafür schulen, Hausbesuche bei Patientinnen und Patienten zu übernehmen. Damit sie nicht bergeweise Papierakten mitführen müssen, war eine elektronische Patientenakte für Tablets mit vielfältigen Schnittstellen zu Praxissoftware und Krankenkassen gefragt. „Aus dem Projekt ist Curamatik hervorgegangen“, berichtet Ahrndt. Heute führt das Unternehmen häufig drei- bis fünfjährige Projekte durch, die aus dem Innovationsfonds von Bund und gesetzlicher Krankenversicherung finanziert werden. Neben regelkonformer Umsetzung ist hier Evaluierung gefragt: Trägt die digitale Lösung tatsächlich zur Versorgungsqualität und Kostensenkung bei? Das ist die Voraussetzung, um es in die Regelversorgung zu schaffen.
Ahrndt sieht die strikte Regulierung als notwendiges Übel, das die Qualität im Sinne der Patienten sichert. „Dass wir auf geltende Normen und Standards spezialisiert sind und jedem neuen Teammitglied dieses Know-how vermitteln, ist ein Unique Selling Point“, sagt er. Anforderungsentwicklung, Validierung, regelmäßige Prüfung aller Zuliefernden sowie die strengen Dokumentations- und Meldepflichten setzen gut strukturiertes, prozessgetriebenes Abarbeiten der IT-Projekte voraus. „Es ist eine völlig andere Welt als das Entwickeln von Consumer-Software“, erklärt er. Wenn man sich auf die Regulatorik einlasse, verliere sie ihren Schrecken. Und weil interdisziplinäre Zusammenarbeit von Datenschutz-, Normen-, Medizinprodukte-, Qualitäts- und Softwarefachleuten erforderlich ist, bleibe die Aufgabe abwechslungsreich und sehr kommunikativ. Im CHIC-Büro ist davon aber wenig zu sehen. Viele Bildschirme sind verwaist, weil das Team seit Corona meist im Homeoffice arbeitet. „In unserer Branche wird es wohl so bleiben“, vermutet Ahrndt. Die Kräfte des 15-köpfigen Teams lassen sich auch virtuell bündeln.
Von der Glaukom-App zur mobilen Augenklinik
Wenn Johannes Vegt und Friedhelm Kremer, CEO der glaucare GmbH, ihre Kräfte bündeln, kommt ein Dutzend Beschäftigte und aktive Beiratsmitglieder zusammen. Ihr aktuelles Projekt dreht sich um einen Koffer, in dem eine voll funktionstüchtige, digital vernetzte Augenklinik untergebracht ist. „Alle nötigen Instrumente für eine grundlegende Untersuchung der Augengesundheit sind enthalten. Zudem ein iPad samt selbstentwickelter Software, mit der sich die Untersuchungsbefunde erfassen lassen. Bei Bedarf werden sie online an die nächstgelegene Augenklinik übermittelt“, erklärt Kremer.
Ophmo heißt die Augenklink im Rollkoffer. Auch sie soll zum Einsatz kommen, wo die Gesundheitsversorgung lückenhaft ist. Aus der Arbeit an der glaucare-App wissen Vegt und Kremer, was Betroffenen droht, wenn eine behandelbare Augenerkrankung zu spät erkannt und behandelt wird. „Mit ophmo sind fast 90 Prozent aller Augenkrankheiten diagnostizierbar“, sagt Vegt. Damit könne man moderne Augenheilkunde auch für Menschen in ländlichen Gebieten Asiens, Afrikas und Südamerikas zugänglich machen. Medizinische Fachkräfte sollen dafür mit der Klinik im Koffer über die Dörfer ziehen, Reihenuntersuchungen durchführen und bei auffälligen Befunden Kontakt zu Kliniken herstellen.
Vegt und Kremer sehen ophmo als logische Weiterentwicklung ihrer App. Sie sind mit Investoren in ihren Zielmärkten in Kontakt, um ihr Produkt zunächst dort zu etablieren. Es ist mit spitzem Stift kalkuliert: gute, aber kostengünstige Instrumente und die selbstentwickelte Software minimieren die Kosten „Wir gehen von umgerechnet drei Euro pro Augenuntersuchung aus“, sagt Vegt. Kleines Geld, das großes Leid abwenden kann. Allein in Indien gibt es laut Recherchen der Gründer 100 Millionen Betroffene, denen ihre Interpretation einer „Mobile Health Solution“ helfen kann.
Ob die mobile Praxis den Weg zurück in medizinisch unterversorgte Regionen Europas finden wird, ist ungewiss. Vegt hat in diversen Projekten erlebt, wie aufwendig eine DiGA-Zulassung ist. „Astronomisch teuer“, sagt er. Mit ophmo geht das Team nun andere Wege, damit die Idee schnell bei den Betroffenen ankommt, statt von überbordender Regulatorik ausgebremst zu werden.
Wenn der Zufall zuschlägt
Steven Walker und sein Team von Stgilesmedical sind nicht unmittelbar von den Regularien betroffen. Denn sie erstellen in erster Linie Content, seien es Kurzfilme, Broschüren oder e-Learning-Kurse für HealthCare-Unternehmen. Aber als Dienstleistung berät das Team seine Kundschaft auch rund um die veränderten Regularien, die mit dem Brexit einhergehen. Sowohl britische als auch EU-Unternehmen haben in den jeweiligen Märkten einiges zu beachten. Das setzt einerseits präzises Fachwissen und andererseits genaue Kenntnisse der spezifischen Rahmenbedingungen in den Zielmärkten voraus.
Das Team bietet seine Dienste international an, hat ein Partnerunternehmen in Düsseldorf und ein Zweitbüro im Londoner Gemeindehaus der St. Giles Kirche in der St. Giles Street. Ein Zufall: Walker hatte das Start-up schon vorher nach dem Schutzheiligen der an Krebs und Epilepsie Erkranken und Gehandicapten benannt. „Als unser erstes Büro gekündigt wurde, bot uns die Gemeinde diese Räume an“, berichtet er. Bei allem Zufall – die Adresse passt. Denn das junge Unternehmen engagiert sich sehr für Jene, die mit seltenen Krankheiten oder aufgrund sozialer Außenseiterrollen durchs Raster des Gesundheitssystems fallen. Palliativbehandlung für Obdachlose am Ende ihres Leben. Gehör für Menschen, die verzweifeln, weil Niemand ihr kompliziertes Krankheitsbild zu entschlüsseln vermag. „Studien zeigen, dass oft ein Kommunikationsproblem bei der Erstanamnese zugrunde liegt“, berichtet Walker. Würden Ärztinnen und Ärzte den Erkranken eingangs Zeit geben, ihre teils diffus beschriebenen Symptomen zu präzisieren und erst danach gezielt nachfragen, ließe sich so manche jahrelange Leidensgeschichte vermeiden. Um Praktizierende auf die Befunde der Studien aufmerksam zu machen und einen Bewusstseinswandel einzuleiten, organisiert das Start-up Webinare, Tagungen und Kongresse.
Doch das Kerngeschäft sind Kommunikationsdienstleistungen für HealthCare- und Pharmaunternehmen. „Oft wird vergessen, Forschungsergebnisse oder Geschäftsideen verständlich zu kommunizieren“, erklärt er. Und auch bei der schriftlichen Planung und Dokumentation von Forschungsprojekten oder von klinischen Studien tue sich manch kleines und mittleres Unternehmen schwer. Tatsächlich sei es sehr herausfordernd, hochkomplexe Daten auf kurze und leicht verständliche Inhalte herunterzubrechen, berichtet Walker. Genau hier setze Stgilesmedical an: „Wir sind in der Lage, die Inhalte für verschiedenste Zielgruppen aufzubereiten. Seien es Berichte für Behörden, Lehrmaterialien für Kliniken, Medienartikel, Fachtagungen oder aufklärende Kurzfilme für die Patientinnen und Patienten“. Bei Alledem sieht der Gründer ethisch saubere und transparente Kommunikation als das A und O. Aber im Grunde geht es noch viel weiter. Ob Webseiten, Webportale oder Software: Digitalisierung im Gesundheitssystem steht und fällt mit der Verständlichkeit, Prägnanz und der fachlichen Korrektheit der Inhalte. Darin sieht das mittlerweile zwölfköpfige Team um Walker seine Mission. Wenn sie sich nicht gerade ehrenamtlich für die vergessenen Patientinnen und Patienten einsetzen.
Von Peter Trechow für CHIC!
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