Schafe in der Wissenschaftsstadt
Am Wochenende in Adlershof
Ein Samstag in der Wissenschaftsstadt. Wo montags bis freitags mehr als 20.000 Menschen tätig sind, kehrt am Wochenende Ruhe ein. Dilek Güngör hat für das Adlershof Journal einen Streifzug durch das Gelände gemacht.
Das Gewitter liegt schon in der Luft, ob es an diesem Abend kommt oder noch zwei Tage auf sich warten lässt, wissen wir nicht. Angekündigt ist es, aber kein Wind geht, die Wolken hängen schwer und diesig am Himmel. Auf dem Rad spürt man wenigstens leichten Fahrtwind, aber sobald man absteigt, zieht es einen in den Schatten der Bäume: Raus aus der schweren Hitze. Wie schön wäre jetzt ein Mittagsschlaf. Die Kinder stört die Hitze nicht. Unermüdlich rupfen sie Gras von den Wiesen und halten es den Schafen vors Maul, die hinter dem Zaun in ihrer dicken Wolle stehen. Die Tiere fressen gierig, als stünden sie nicht selbst auf Gras, und die Kinder rennen und laufen, holen mehr Gras und noch mehr Gras. Das kann noch lange dauern. Ein Schild warnt vor einem Bullen, lebensgefährlich soll er sein, die Kinder schreckt das nicht, sie wollen den Bullen sehen, aber er lässt sich nicht blicken.
Wir sind hier nicht auf einem Bauernhof, ganz und gar nicht, auch nicht auf dem Land, aber durchaus ein ganzes Stück draußen, weit weg von der Innenstadt. Wir sind in Adlershof, der Wissenschaftsstadt am Rande Berlins. Kommt man vom S-Bahnhof, passiert man Forschungsinstitute, Technologie- und Gründerzentren, Institutsgebäude der Berliner Humboldt-Universität, Fernsehstudios und nagelneue Wohngebiete. Man kann eine ganze Weile umherradeln in diesem 4,2 Quadratkilometer großen Gebiet, das sich als erfolgreichster Standort für Hochtechnologie in Deutschland und Berlins größter Medienstandort bezeichnet. Man passiert gläserne Fassaden, Eisen und Stahl, Sichtbeton und Holzlamellen, fährt durch Straßen mit großen Namen, die Albert-Einstein- und die Max-Planck-Straße, den Alexander-von-Humboldt-Weg und die Abram-Joffe-Straße. Und wer am Ernst-Ruska-Ufer entlangfährt, kann auf den Teltowkanal blicken, Angler soll es dort geben, aber auch denen ist es heute offenbar zu heiß. Mehr als 1.000 Unternehmen und wissenschaftliche Einrichtungen haben ihren Sitz hier in Adlershof. Knapp 16.000 Menschen arbeiten hier, dazu kommen mehr als 6.500 Studenten. Nur heute, an diesem heißen Samstag, ist hier niemand zu sehen.
Überquert man die Hermann-Dorner-Alle, kehrt man der Wissenschaftsstadt den Rücken und vergisst die spiegelnden Fassaden. Mit einem Mal wird der Blick frei und weit, hier erstreckt sich das 26 Hektar große ehemalige Flugfeld Johannisthal, das heute ein Naturschutzgebiet ist. Und hier stehen die Kinder mit ihren Grasbüscheln bei den Schafen, Heuschrecken gibt es, Käfer, Brutvögel, Spinnen, Schmetterlinge, Wespen, Bienen und Pflanzen. Viele von ihnen sind vom Aussterben bedroht oder gelten andernorts bereits als verschollen. 1909 wurde hier der erste deutsche Motorflugplatz eingeweiht, Johannisthal entwickelte sich rasch zu einem Zentrum der Flugzeugindustrie und unter den Nationalsozialisten zum bedeutenden Standort der deutschen Luftfahrtforschung. Längst fliegen und landen hier keine Flugzeuge mehr. Jahrzehnte lag das Feld brach, die Natur konnte es sich zurückerobern. Heute steht das einstige Flugfeld unter Naturschutz, auf kilometerlangen Wegen und Holzstegen kann man es umrunden, es kommt einem vor, als spaziere man an einem See entlang.
Am frühen Abend radeln wir zurück, die Hitze hat nachgelassen, die Schafe dürften sich inzwischen satt gefressen haben. Jetzt sind wir es, die hungrig sind und Durst haben. Wir kommen wieder, wenn wir Sehnsucht nach Weite und Ruhe haben, aber dann an einem Wochentag, dann begegnen wir auch den Forschern.
Von Dilek Güngör für Adlershof Journal