Neue Normalität, neues Mindset
Essay von Christoph Burger, Psychologe, Karriereberater und Coach für Persönlichkeitsentwicklung im Raum Stuttgart
Seit Beginn der Coronakrise 2020 ersehnen wir die Rückkehr zur Normalität – den gewohnten Alltag, gemeinsam feiern, unbeschwert in den Urlaub fliegen. Doch was wird möglich sein? Wie viel Zufriedenheit erwartet uns jenseits von Corona in den nächsten Jahren?
Was ist überhaupt „normal“? Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman erklärt es so: Entlang des Weges, auf dem er gemeinsam mit seiner Frau wöchentlich die Stadt durchquerte, brannte ein Auto. Ein unerwartetes Ereignis. Noch überraschender war allerdings, dass es sich eine Woche später wiederholte. An genau derselben Straßenecke. Noch Monate nach diesen beiden Vor fällen waren sie erstaunt, wenn an jener Stelle der Stadt KEIN Auto brannte!
Zwei zufällige, aber sich ähnelnde Ereignisse – und schon bastelt unser Gehirn daraus eine Regel. Das Normale ist also das, was wir gewohnt sind. Der Vorteil: Wir können uns veränderten Gegebenheiten schnell anpassen.
Ob wir das allerdings wollen, ist eine ganz andere Frage. Je privilegierter wir leben, desto stärker verteidigen wir den Status quo. Und desto größer ist unsere Macht, ihn durchzusetzen. Aktuell haben wir entschieden, uns an sehr verschiedene Dinge zu gewöhnen: An unsere Wirtschaftsweise und unseren Lebensstil, an immer lautere Warnungen der Wissenschaft, dass sich beides ändern muss – und sogar an Hitzerekorde und Flutkatastrophen.
So findet es auch kaum Beachtung, dass die USA und Kanada gerade ihr Pro-Kopf-CO2-Budget für das 1,5-°C-Limit an globaler Erwärmung aufgebraucht haben (bei 66 Prozent Wahrscheinlichkeit). In Deutschland wird es noch in dieser Legislaturperiode so weit sein. Um daraus keinerlei Konsequenzen für uns selbst ziehen zu müssen, pflegen wir magisches Denken: Das wird schon noch – auf wundersame Weise – gut gehen.
Doch solcherlei Gehirnzauber hilft zwar dabei, einen wohligen Zustand in unseren Köpfen zu bewahren. In der Physik jedoch herrschen Ursache und Wirkung. Die Emission von Klimagasen führt zum globalen Temperaturanstieg. Spätestens ab 1,5 °C droht eine Kaskade von Kippeffekten – und der globale Kontrollverlust über unsere Lebensbedingungen. Je länger wir diese Erkenntnis hinauszögern, desto härter wird der Aufschlag.
Dabei bietet die Weiterentwicklung unseres Mindsets durchaus attraktive Perspektiven. Die empirische Psychologie zur „Ich-Entwicklung“ fand heraus: Während sich viele Erwachsene damit begnügen, neue Informationen in ihr schon vorhandenes mentales Raster einzufügen (was nicht passt, wird passend gemacht), bleiben andere neugierig und mutig. Sie stellen ihr Selbst- und Weltbild immer wieder in Frage und entwickeln es weiter. Das kostet auch Kraft, denn alte Gewissheiten müssen infrage gestellt, Irrtümer erkannt und eingeräumt werden.
Doch sich spiralförmig zwischen den Polen des „Ich“ und „Wir“ weiterentwickelnd, erlangen Menschen eine immer größere geistige Flexibilität und Kapazität. Und ein Mindset, das vermutlich zukunftstauglicher ist. Komplexeres Denken wird der Dynamik unserer Zeit und einer immer komplexeren Welt eher gerecht. Da zudem die Innenwelt vielfältiger wird, müssen Glück und Zufriedenheit weniger an den Konsum von Dingen gekettet werden.
Mehr innere Entwicklung, um die äußeren Grenzen einhalten zu können, muss also nicht schlimm sein, im Gegenteil. Wir sichern nicht nur unsere Lebenswelt, sondern treten zudem eine spannende, menschlich erfüllende Reise an. Auf Flugreisen werden wir bald verzichten müssen. Darauf nicht.
Psychologe Christoph Burger arbeitet als Karriereberater und Coach für Persönlichkeitsentwicklung im Raum Stuttgart. Er engagiert sich bei den Psychologists4Future und ist Autor verschiedener Businessbücher, wie „Traumjob für dummies“.