Leidenschaften aus dem Vorratsschrank
Wir treiben unsere Kinder an anstatt uns selbst
Essay von Dilek Güngör, Journalistin und Autorin. Vielen Hauptstädtern vertraut wurde sie durch ihre bis Sommer 2014 in der Berliner Zeitung erschienene Kolumne.
In unserer Straße ist eine Kita. Jeden Vormittag, wenn ich die Stimmen der Kinder unter meinem Fenster höre, stehe ich vom Schreibtisch auf und sehe ihnen zu, wie sie mit ihren Erzieherinnen Hand in Hand erst über die eine, dann über die nächste Straße gehen. Dort ist ein kleiner Park, dahinter ein Spielplatz. Die Kinder rennen den winzigen Hügel hinauf und hinunter, sie hüpfen, manche bleiben einfach stehen und gucken. Heute regnet es, alle tragen Gummistiefel, Regenhosen und Regenjacken. Die Armen, denke ich. Es wird ihnen trotz Kapuze ins Gesicht regnen. Kindern macht der Regen nichts aus. Sie brauchen frische Luft. Sie müssen sich bewegen. Das weiß jeder.
Erwachsene brauchen auch frische Luft, aber die meisten atmen die frische Luft lieber dann ein, wenn es nicht gerade regnet. Auch sie müssen sich bewegen, tun es aber selten, weil sie lieber sitzen. Der Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen ist, dass man Kinder scheuchen kann, bei Erwachsenen ist das schwierig.
Wir scheuchen die Kinder nicht aus einer Laune heraus. Wir wissen, was gut für sie ist, wir wissen, was sie brauchen. Rituale, das sagt einem schon die Hebamme, das sagen die anderen Eltern, das steht in allerlei Büchern. Ein Einschlafritual zum Beispiel. Dazu legt man das Baby jeden Abend um dieselbe Uhrzeit im selben Schlafsack mit demselben Kuscheltier ins selbe Bett. Ich habe vergessen, ob auch immer dasselbe Schlaflied dazu gesummt werden muss oder ob man ab und an auch mal etwas erzählen darf. Ohne Einschlafritual können Babys offenbar nicht einschlafen, als hätten sie nicht schon im Mutterleib geschlafen, ohne Lied und ohne Schlafsack.
Das Kind braucht feste Essenszeiten. Wird das Baby außerplanmäßig hungrig, geht man mit dem weinenden Kind in der Wohnung auf und ab, lenkt es ab und singt ihm etwas vor, selbstverständlich nicht das Schlaflied, sondern das „Wir warten auf das Essen“-Lied. Wenn es die Flasche alle vier Stunden gibt, gibt es die Flasche eben alle vier Stunden. Basta.
Später, keinesfalls aber zu spät, müssen die Kinder zum Singen, zum Musizieren, zum Englischunterricht, zum Schwimmen, zum Tanzen, zum Turnen. Sie müssen gefördert werden und angeregt, ob sie wollen oder nicht. Nie wieder lernt man so schnell und mühelos wie als Kind. Was wäre es für eine Verschwendung, sie einfach Lego spielen zu lassen, wo sie doch in derselben Zeit Gitarre oder Ballett lernen könnten. Was soll aus ihnen werden, wenn eines Tages das richtige Leben beginnt und sie sind nicht optimal vorbereitet? Haben ihre Fähigkeiten nicht entdeckt und wissen nicht, wo ihre Talente liegen?
Als wäre nicht jeder einzelne Tag ein Tag im richtigen Leben eines Kindes, sind wir mit ihrer Zukunft beschäftigt und befüllen sie wie einen Vorratsschrank, damit im Fall des Falles auch alles da ist. Jedes Kind weiß, was seine Leidenschaften sind, worauf es neugierig ist und was es wissen möchte. Eine Leidenschaft muss man nicht suchen, sie ist da, und wenn sie stark genug ist, erlischt sie nicht. Wir lassen unseren Kindern nur keine Zeit, sie in ihrem eigenen Tempo zu entdecken.
Was ist mit uns, den Erwachsenen? Was ist mit unseren Talenten? Wir reden uns raus und sagen, wir seien zu alt, um jetzt noch Geige spielen zu lernen. Damit hätte man als Kind anfangen müssen. Es ist wahr, wir lernen nicht so rasch wie die Kinder, aber wir tun es. Aber statt uns selber aufzuraffen, treiben wir lieber unsere Kinder an. Wir wollen ja nur ihr Bestes.