Heavy Metal ohne Stau
Wie Forscher des DLR den Straßenverkehr flüssiger machen
Wacken ist ein Ort in Schleswig-Holstein, zwölf Kilometer von Itzehoe entfernt, keine zweitausend Einwohner. Auf ihrer Homepage wirbt die Gemeinde mit ungestörter idyllischer Natur. An rund 360 Tagen im Jahr ist das die reine Wahrheit. Ausnahme: Am ersten Augustwochenende wird es sehr laut in Wacken, denn hier findet alljährlich das mittlerweile größte Heavy-Metal-Festival der Welt statt. Allein 75.000 zahlende Besucher reisen mit zehntausenden Autos und Motorrädern an, dazu kommen all die beteiligten Musiker, Techniker, Helfer.
Wie wird man der An- und Abreiselawine Herr? Wie kann man sicherstellen, dass bei Bedarf Feuerwehr oder medizinische Hilfe schnellstmöglich ihren Einsatzort erreichen? Unterstützung in solchen Fragen erhalten die Festivalveranstalter aus Adlershof und Oberpfaffenhofen, von Experten des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Das Projekt VABENE++ war schon 2015 beim Wacken Open Air im Einsatz und soll auch vom 4. bis 6. August 2016 den Organisatoren das Leben leichter machen. Und nicht nur dort wird dieses System des „Verkehrsmanagements bei Großereignissen und Katastrophen“ geschätzt. Seine Feuertaufe erhielt der Vorläufer von VABENE++ bereits 2005 beim Katholischen Weltjugendtag in Köln, als 1,2 Millionen Menschen auf das Marienfeld zur Abschlussmesse strömten.
VABENE++ besteht aus verschiedenen Arten der Verkehrserfassung, erklärt Projektleiter Ronald Nippold. Am Einsatzort werden alle verfügbaren Verkehrsdaten gesammelt und zu einem Gesamtbild zusammengefasst. Dazukommt die Verkehrsbeobachtung aus der Luft, die sehr genau ist und von vornherein einen flächigen Charakter hat. Um weitere Lücken zu schließen, installieren die Forscher vom DLR Bluetooth-Boxen. Vorbeifahrende Autos werden anhand ihrer bluetoothfähigen Geräte (Freisprecheinrichtungen, Handys, Navigation etc.) erkannt. Anhand der verschlüsselten und anonymisierten Daten wird gemessen, wie lange sich ein Auto im Empfangsbereich der Bluetooth-Box aufhält. Je länger das dauert, desto wahrscheinlicher ist, dass es sich dort gerade staut.
Aus diesen drei Elementen – Erfassung der vorhandenen Verkehrsdaten, Ergänzung durch aktuelle Sensorik aus der Luft und per Bluetooth, Zusammenfassung zu einem Bild – werden Empfehlungen für Veranstalter, Einsatzkräfte und Behörden abgeleitet, damit der Verkehr unmittelbar beeinflusst werden kann. Noch ist VABENE++ „nur“ ein Forschungsprojekt. Mit Hilfe von Industriekooperationen soll es künftig vermarktet werden. Und natürlich taugt es nicht nur für Musikfestivals, sondern kann sogar Leben retten, zum Beispiel durch den Einsatz bei Katastrophen. Auch in solchen Fällen hat sich VABENE++ bereits bewährt. Bevorzugte Anwendungen liegen immer auf der „grünen Wiese“, an Orten, die nicht – wie etwa in städtischen Räumen – mit installierter Verkehrssensorik ausgestattet sind. So ist geplant, VABENE++ zum 500. Jahrestag der Reformation 2017 rund um die Lutherstadt Wittenberg einzusetzen.
Demnächst, erzählt Ronald Nippold, soll es Messungen am Stadion an der Alten Försterei geben, um der Einsatzleitung ein genaueres Bild über die unterschiedlichen Verkehrsströme zu vermitteln, also Besucher, die mit dem Auto fahren, und Fangruppen, die zu Fuß kommen. Darüber sprechen die Wissenschaftler vom DLR gerade mit der Berliner Polizei und dem Fanbeauftragten des 1. FC Union. In Wacken ist Ronald Nippold Anfang August nicht dabei, die Familie hat diesmal Vorrang. Er bedauert das ein wenig, denn nicht nur die Arbeit bei einem solchen Spektakel ist spannend und macht Spaß, Ronald Nippold hört auch ganz gern Heavy Metal. Allerdings war es nicht schwer, Ersatz zu finden. Das Wacken Open Air ist im VABENE-Team ein heiß begehrter Job.
Von Harry Mehner für Adlershof Journal