Die Kunst des Flanierens
Essay von Prof. Dr. Holger Rust, Wirtschaftssoziologe, Praktiker und Publizist, bekannt als Kritiker von Managementmoden
Wenn dereinst ein intelligenter Algorithmus anhand zufällig aufgenommener Fotos der öffentlichen Szene die repräsentative Ikonografie für unsere Zeit zu identifizieren haben wird, kommt dies heraus: gesenkter Kopf, fokussierter Blick, kontextuelle Ignoranz, Isolation in der Masse derer, die sich auf eben diese Weise isolieren, und im Fokus all dessen: das Smartphone, Eingangstor zu den mit einem entrückten Euphemismus bezeichneten „sozialen Medien“. Verbunden mit allem und jedem weltweit, in Echtzeit, im Jetzt. Nur offensichtlich nicht im Hier.
Geregelt durch die mathematische Zurüstung jeglichen nächsten Augenblicks als logisches Replikat des vorangehenden, mit virtuellen Navigationsgeräten der Mehrheitsbewegung all derer nachgebildet, die unentwegt aufs Gerät starren. Apps, die einen dorthin führen, wo auch andere schon waren, die einem deshalb ähnlich scheinen, weil sie Informationen folgten, wo wir schon waren, und so fort, was nun – nach dieser abstrakten Einleitung die kleine knirschende konkrete Frage aufwirft, wie bitte noch sich Kreativität für eine innovative Zukunftsgestaltung nähren könnte. Irgendwann muss dieses System ja im rasenden Stillstand landen. Dann droht eine innovative Schockstarre, weil man keine Impulse mehr empfängt, die nicht vorher durch die bereits archivierten Datenbestände geprägt wären.
Was sähe man denn, wenn der Blick sich vom funkelnden Rechteck löste und frei umherirrte, dies während man einfach nur so vor sich hinginge? Ich will die Antwort mit einem Beispiel einleiten: Mitte der 1980er Jahre tauchte im Wiener Stadtbild eine Plakatwerbung für Dessous auf, gestaltet als Triptychon, auf dessen drei Tafeln Cindy Crawford die Kundinnen mit jeweils einem Wort ermunterte: Trau. Dich. Doch. Crawfords Haltung – die Arme hinter dem Kopf gekreuzt, der Blick selbstbewusst, der Körper nicht ganz abgebildet – inszenierte unmissverständliche Erotik. Die Kampagne war höchst erfolgreich, weil sie irritierte und mit allem brach, was bislang öffentlich war.
Doch die Irritationen entstanden weniger wegen der öffentlichen Zurschaustellung der Weiblichkeit, als wegen eines diffusen Gefühls der Vertrautheit. Genau das war der kleine Geniestreich: Die Werber hatten in ihre Bebilderung des luxuriösen Darunter eine uralte Ikonografie integriert, die sichtbar wurde, wenn man – durch die Stadt flanierend – den Blick auf die oberen Stockwerke der Fassaden richtete, wo – in eben der Stellung, die das Plakat reinszenierte – Karyatiden und Atlanten in steinerner Erotik wirkten. Man sah dies natürlich nur, wenn man sich, wie in seiner inspirierenden Textsammlung „Ermunterung zum Genuss“ der berühmteste Protagonist dieser vergessenen „Kunst des Spazierengehens“, Franz Hessel, schrieb: gehen ließ. „Eine Schule des Sehens“, die Hessel später vorführte, als „Flaneur in Berlin“, in einem „Versuch mit Wien“ oder im berühmten „Pariser Tagebuch“, das entstand, weil er sich flanierend von der Aufgabe ablenken ließ, einen Artikel zu schreiben, und genau dadurch seinen Gegenstand fand.
Diese Kunst wird in den nächsten Jahren zusehends wichtiger, wenn es darum geht, den Megatonnen von Big Data nicht nur das starre Gestänge des Gestrigen zu entringen, sondern das Neue, das Eigentümliche. Wie es eben jener Blick für das erotische Motiv der Karyatiden als Vorspiel für eine Werbung des 20. Jahrhunderts zeigt. Also Kopf hoch. Blick zurück nach oben, auf dass neue Ideen entstehen – nur eine bitte nicht: eine Fußfessel, die Flaniermeilen zählt!