Von Weltraumschnappschüssen und wilden Zahlen
Zwei Naturwissenschaftler berichten, wie sie ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Welt tragen
Farbstarke Experimente, spektakuläre Bilder, elegante Gleichungen. Es gibt unzählige Arten, wissenschaftliche Erkenntnisse an die Frau und den Mann zu bringen. Doch was für die angewandten Naturwissenschaften gilt, gilt noch lange nicht für die Grundlagenforschung: In puncto Vermittlung bieten sich jedem Fach ganz eigene Chancen, kämpft jede Disziplin mit anderen Fallstricken. Über die Sprache ihres Fachs, die beglückenden Momente, in denen Vermittlung gelingt, und die Grenzen des Darstellbaren, sprachen wir mit Jürg Kramer vom Institut für Mathematik der Humboldt-Universität zu Berlin und Ulrich Köhler vom Institut für Planetenforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR).
Weihnachten 1968: Plötzlich blitzt hinter der lebensfeindlich grauen Kraterlandschaft des Mondes die leuchtend blaue Erde hervor. Bill Anders, Besatzungsmitglied der Apollo 8-Mission, drückt auf den Auslöser. „Earthrise“ heißt das Jahrhundertbild, auf dem die Erde erstmals als verletzlicher Planet inmitten schwarzer Leere aufleuchtet. Jahrzehntelange Spitzenforschung, hochkomplexe Berechnungen und millionenschwere Experimente, verdichtet in einer einzigen Aufnahme. „Das ist ein Beispiel für die ikonische Kraft des Bildes“, freut sich Ulrich Köhler vom DLR. „Dass wir Planetenforscher mit Bildern arbeiten können – damals vom Mond, heute zum Beispiel vom Mars –, ist ein großes Glück. Ohne diese Aufnahmen wäre es für uns sehr schwierig der Öffentlichkeit zu vermitteln, woran wir arbeiten.“
Abseits spektakulärer Weltraumfotografie müssen sich Köhler und das Planetenforschungs-Team manchmal auch an Phänomene herantasten, die strenggenommen gar nicht darstellbar sind: die Dunkle Materie zum Beispiel – eine unsichtbare Teilchenart, die über Gravitation mit Himmelskörpern wechselwirkt. „Mein früherer Institutsdirektor hat immer gesagt, man kann bis zu einem gewissen Grad vereinfachen, aber die Einsteinsche Raumkrümmung wird immer eine Raumkrümmung sein. Zu stark zu vereinfachen – da bleibt der Kern der Sache auf der Strecke.“ Auch stoße die menschliche Vorstellungskraft angesichts eines sich unendlich ausdehnenden Universums schlicht an ihre Grenzen. „Was war davor? Was liegt hinter dem Universum? Das berührt dann schon Gebiete der Theologie oder Philosophie.“
Dass abstraktes Wissen mitunter schwer zu vermitteln ist, ist auch dem Mathematikprofessor Jürg Kramer wohlbekannt. Bilder, Objekte, Videos oder Klangaufnahmen, die den Wissenstransfer unterstützen könnten, sind in der theoretischen Mathematik knappe Güter und so müssen er und seine Kollegen zumeist auf Zahlen und Sprache zurückgreifen. Der Mathematiker sieht das pragmatisch: „In Hinblick auf die konkrete Vermittlungsform habe ich eigentlich keine Präferenz. Wichtig ist, Verständnis zu generieren – und eben das Mittel zu verwenden, das hilft.“ Formeln zum Beispiel, mit deren Hilfe sich komplizierte Prozesse prägnant beschreiben lassen. „Das sind kompakte Zusammenfassungen von Sachverhalten, die das Verständnis erleichtern. Im Kontext von Corona etwa: Die Zunahme von Erkrankten über die Zeit war anfangs ziemlich genau proportional zur jeweiligen Anzahl der Erkrankten und ließ sich deshalb als Exponentialfunktion beschreiben.“ Übertragen lassen sich solche Funktionen in anschauliche Kurven, wie sie aktuell etwa auf den Seiten des Robert Koch-Instituts oder des Johns Hopkins Coronavirus Research Center zu sehen sind.
Noch eine andere große Stärke hätten mathematische Untersuchungen, sagt der Wissenschaftler und meint ihre Fähigkeit, feine Unterschiede präzise zu benennen. Bei der Suche nach Lösungen für ein Problem gelte es allerdings, zunächst zu ermitteln, ob es überhaupt eine Lösung gibt – und wenn ja, ob eine, mehrere oder vielleicht sogar unendlich viele. „Die Sprache ist hier ein unverzichtbares Instrument, ohne das man nicht weiterkommt.“
Abseits von Exaktheit habe die Welt der Zahlen auch eine überaus chaotische Seite, berichtet Jürg Kramer, so dass sich Mathematik „als Wechselsprache zwischen Ordnung und Wildwuchs“ offenbare. Ein Beispiel: „In der Schule lernt man, dass Bruchzahlen entweder abbrechen oder periodisch sind. Tatsächlich aber bricht die Mehrzahl nicht ab – und in ihnen ist auch überhaupt kein Muster zu erkennen.“ Die Kreiszahl Pi, die bislang auf mehr als 30 Billionen Nachkommastellen berechnet wurde, ist wohl die prominenteste Vertreterin dieser unendlich langen Zahlen. In der mathematischen Fachsprache werden sie und ihre zahlreichen, „wilden“ Schwestern als transzendent bezeichnet – als Zahlen also, deren Eigenschaften geläufige Erklärungsmuster und Vorstellungen überschreiten.
Allen Unterschieden zum Trotz haben angewandte Planetenforschung, theoretische Mathematik und deren Vermittlung am Ende Entscheidendes gemeinsam: Sie suchen nach Wahrheit und Struktur, wollen die Welt abbilden, wie sie ist, berühren Menschheitsfragen – und stoßen im unendlich kleinen Zahlenraum ebenso wie im unendlich großen Universum an die Grenzen des Vorstellbaren. „Ob hier nun Forschung in Theologie übergeht oder in Philosophie: Vielleicht ist das ganz gut so“, kommentiert Ulrich Köhler mit einem Augenzwinkern. „Wenn wir schon alles wüssten, bräuchte man uns vielleicht nicht mehr.“
Von Nora Lessing für Adlershof Journal