„Techlash“ als Impuls: Angst und Skepsis vor digitalistischer Überfremdung und Datenmissbrauch
Essay von Professor Dr. Holger Rust, Wirtschaftssoziologe, Praktiker und Publizist
Irgendwann war es nicht mehr zu übersehen: Die meisten der von mir betreuten Bachelor- und Masterarbeiten, die sich in den vergangenen Jahren mit den gesellschaftlichen Folgen von Transformationsprozessen beschäftigten, setzten an den Anfang der Recherche wie selbstverständlich ein Motiv, das so oder ähnlich formuliert war: „Die Digitalisierung schreitet unaufhaltsam voran.“
Hier wird offensichtlich in der wissenschaftlichen Arbeit der verbreitete Eindruck einer Hilflosigkeit reproduziert, die Idee, ein „System“ walte jenseits jeglicher Einflussmöglichkeiten und es stünden nur die Optionen einer oberflächlichen Ausgestaltung offen. Und zwar so herausfordernd, dass die Kritiker schon einen dramatischen Begriff dafür fanden, ein eigentlich medizinisches Wort, das eine Vergiftung durch den Fingerhut bezeichnet – Digitalismus. Seit etwa 2010 geistert dieser Begriff durch Utopien oder Dystopien (auch so ein Modewort) einer durchdatafizierten künstlichen Wirklichkeit.
Irgendwie aber ruft der Begriff „Digitalismus“ auch ganz andere Assoziationen wach – zum Beispiel an den am 15. August 1989 anlässlich der Musterübergabe eines 32-Bit-Chips aus DDR- Produktion vom Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker mit dünnem Stimmchen vorgetragenen Vers: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“ Denn, ersetzt man „Sozialismus“ durch „Digitalismus“, dann wird das „unaufhaltsame Fortschreiten“ der Digitalisierung zu einem hintergründig mitschwingenden geschichtsphilosophischen Prinzip: zu einem „Historischen Materialismus 4.0“. Der Historische Materialismus 1.0 war ja dann aber bald zu Ende.
Wiederholt sich die Geschichte nun auf anderem Terrain? Immer-hin: Machtvoll formiert sich auch hier eine Kritikerszene. Dass man sie ernst nehmen muss, zeigt sich schon daran, dass längst auch für sie ein Begriff in Umlauf ist, der fast lautmalerisch die Einschläge ins schöne System der künstlich intelligenten Digital-Convenience-Produkte verdichtet: „Techlash“.
Es sind keineswegs nur verbockte Maschinenstürmer, Angsthasen oder publizistische Krisengewinnler mit opportunistischen Untergangsphilosophien. Es sind vermehrt auch höchst seriöse Kritiker und Ökologen dabei, die den Ressourcenverbrauch durch Massen-Datafizierung brandmarken, es sind sogar prominente Leitfiguren der IT-Gründerszene selbst – ebenso milliardenschwere wie reuige Erfinder. Sie langen zum Teil ganz schön hin, die ehemaligen Garagenfirmen-Granden, manche vergleichen sogar die Datenabhängigkeit mit dem Konsum harter Drogen. Und erst kürzlich rückte die Journalistin Maria Ressa auf der Innovationskonferenz „Digital Life Design“ (DLD) in München, lange Zeit der Ort für das Hochamt fast religiöser Digital-Utopien, ein beliebtes Bild zurecht: „Daten sind nicht das neue Öl. Sie sind das neue Plutonium.“
Was öffentlich bleibt, ist vor allem eines: „Learned Helplessness“. Da kann man noch so lange argumentieren, das „Narrativ“ (noch so ein Wort) von der künstlichen Intelligenz als Erfindung eines in Silicon Valley wesenden Frankensteins sei nicht nur unsinnig, sondern katastrophal für innovative Lösungen menschlicher Probleme. Ob das Argument wirkt, ist offen. Aber genau das ist die Herausforderung, oder, um am Ende dann auch hier einen schwungvollen Anglizismus zu benutzen: die „Challenge 2020 ff.“.
Den Digitalismus „hält“ in der Tat „weder Ochs noch Esel auf“, sondern allein die Szene fantasievoller Innovatoren und kommunikativer Ingenieure, die den Techlash als Impuls und sich selbst als die Speerspitze einer intelligenten Kunst begreifen.
Professor Dr. Holger Rust ist Wirtschaftssoziologe, Praktiker und Publizist. Er lebt in Schleswig-Holstein. 2019 erschien sein Buch „Rettung der Digitalisierung vor dem Digitalismus“.