Mehr als „Sahnetorte fürs Ohr“
Warum ist der Mensch musikalisch
Essay von Dr. Christian Lehmann. Der Musikwissenschaftler lehrt an der Universität Regensburg, tritt als Sänger auf und ist Autor des Buches „Der genetische Notenschlüssel: Warum Musik zum Menschsein gehört“.
Sie begeistert, rührt zu Tränen, jagt Schauer über den Rücken, mobilisiert Massen, begleitet unseren Alltag und ist ein Milliardengeschäft: Musik. Ihre Faszination ist ein Phänomen aller Zeiten und Kulturen. Seit relativ kurzer Zeit ist Musik auch für die „harten“ Naturwissenschaften ein Thema – und eines ihrer letzten großen Geheimnisse: Warum ist der Mensch musikalisch?
Im Zeitalter von iPod und Kaufhausbeschallung hören wir Musik, wo und wann immer wir wollen – oder auch nicht wollen. Unsere Alltagsbeziehung zur Musik ist meistens eine passive. Wir sind Hörer – oder wie Georg Christoph Biller, als Leipziger Thomaskantor ein Nachfolger J. S. Bachs, es ausdrückt: „Man singt nicht mehr, man lässt singen.“ Tatsächlich tun die meisten von uns sich schwer, in Gesellschaft ein Lied anzustimmen. Diese Hemmungen fallen nur noch im Fußballstadion oder in Castingshows.
Für den amerikanischen Linguisten Steven Pinker ist Musik so etwas wie „Sahnetorte fürs Ohr“, ein angenehmer, aber entbehrlicher Sinneskitzel. Die Evolutionsbiologie jedoch hat Indizien dafür, dass unser Sinn für Melodie und Rhythmus nicht aus einer Laune der Natur heraus, sondern als biologische Notwendigkeit entstanden ist. Wie kommt man darauf? Hören wir einer Mutter zu, die mit ihrem Baby spricht: Ihre Stimme bewegt sich viel weiter auf und ab als im Gespräch mit Erwachsenen. Engagierte Psychologen haben sich bemüht, diesen „Babytalk“ als neurotisch und unemanzipiert zu entlarven. Sie irrten. Mütter (aber auch Väter und Tanten) auf der ganzen Welt sprechen intuitiv so mit Babys und singen Wiegenlieder.
Das kommt nicht von ungefähr: Lange bevor das Kind die Bedeutung der Worte lernt, reagiert es auf Melodien. Der Sinn dieser Verhaltensanpassung wurzelt tief in unserer Stammesgeschichte. Als der pelzige Hominide zum „nackten Affen“ wurde und der Nachwuchs sich nicht mehr im Fell der Mutter festhalten konnte, musste die Mutter das Baby gelegentlich ablegen und die Unterbrechung des Körperkontakts durch beruhigende Laute überbrücken.
Eine andere Hypothese über die evolutionären Ursprünge der Musikalität hat mit unserem Hang zum Wirgefühl zu tun. Im Fußballstadion können wir eine auf den ersten Blick nutzlose Spezialbegabung des Homo sapiens beobachten: Fans werden binnen Sekunden ohne Dirigent zu einem Chor und synchronisieren dabei nicht nur Stimme und Bewegung, sondern auch Emotionen und Ziele. Möglicherweise war das „Prinzip Südkurve“ ein evolutionärer Schlüssel zur Erfolgsgeschichte unserer Spezies. Vereinfacht gesagt: Der Mensch ist ein guter Teamarbeiter, weil er Rhythmusgefühl besitzt und nach harmonischem Zusammenklang strebt, der ihn mit Lustgefühlen und Gänsehaut belohnt.
Musizieren setzt Glückshormone frei. Doch nicht nur das: Wissenschaftler an der Universität Frankfurt konnten messen, dass im Speichel von Chorsängern der Pegel von Immunglobulin A während des Singens steigt, die Sänger also mit gestärkten Abwehrkräften aus der Chorprobe hervorgehen. Beim CD-Hören bleibt dieser Effekt aus.
Im Jahre 2008 wurde in einer Höhle auf der Schwäbischen Alb eine steinzeitliche Flöte gefunden, geschnitzt vor rund 35.000 Jahren aus einem Gänsegeier-Knochen. Unsere Vorfahren spielten also Flöte, lange bevor sie das Rad und den Ackerbau erfanden. Wir beginnen zu verstehen, dass sie das nicht aus bloßer Langeweile taten.
Musik gehört zur biologischen Serienausstattung des Menschen wie Sprache, Mimik und Gestik. Sie ist ein Teil unseres Sozialverhaltens, unseres Mitteilungsvermögens. Diskussionen, ob Musikunterricht in der Schule Mathenoten verbessern kann oder ob Studierende des Grundschullehramts Nützlicheres zu tun haben als zeitraubende und teure Musikmodule zu absolvieren, sollten daher überflüssig sein. Im Zweifel könnte ein Rat der Alten Griechen helfen: Bei ihnen gehörte Musik zusammen mit Arithmetik, Geometrie und Astronomie zu den „MINT“-Fächern.
Dr. Christian Lehmann für Adlershof Journal