Mädchen lieben Physik, aber anders als Jungen
Club Lise fördert Migrantinnen in Naturwissenschaften
Melanie ist 18 und sie interessiert sich für Physik. Die Schülerin hat in ihrer Abiturvorbereitung für die geforderte besondere Lernleistung das Thema Holographie gewählt. Betreut wird sie dabei durch Wissenschaftler und Studierende am Institut für Physik der Humboldt-Universität zu Berlin (HU): So hat sie dort bereits an einem Demonstrationspraktikum mit einem aktiven Beitrag teilgenommen, wird mit einer Studentin gemeinsam den Holographieversuch im Fortgeschrittenen-Praktikum des Physikinstituts durchführen, an der FU in einem Holographielabor arbeiten und außerdem die Firma HoloEye Photonics im Technologiepark Adlershof besuchen. Auch Melanies Freundin Aysegül interessiert sich für Naturwissenschaften. Sie möchte ihre besondere Lernleistung zum Thema Schizophrenie in Kooperation mit dem Institut für Psychologie der HU schreiben.
Vorbilder in der eigenen Peergroup
Angefreundet haben die beiden Mädchen sich im Club Lise (CL), der am Physikinstitut der HU in Adlershof angesiedelt ist. Dieser existiert seit November 2005 und ist eine interkulturelle Arbeitsgemeinschaft für naturwissenschaftlich interessierte und begabte Schülerinnen der 10. bis 13. Klasse. Aysegül, Melanie und 13 weitere Mädchen hauptsächlich nichtdeutscher Herkunft treffen sich ein oder zwei Mal monatlich, um Vorlesungen und Labore zu besuchen sowie Experimente durchzuführen. Das soll die Schülerinnen bei der Findung ihrer Interessen unterstützen und sie motivieren, ein naturwissenschaftliches Fach zu studieren. Gleichbedeutend ist es, die Mädchen in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken und Berührungsängste mit der Universität abzubauen. „Wir wollen weg vom Stigma des Kopftuch tragenden Mädchens hin zur selbstbewussten zukünftigen Naturwissenschaftlerin, die zum Vorbild in der eigenen Peergroup wird“, sagt Tanja Tajmel von der Didaktik der Physik in der HU Berlin. Sie ist gemeinsam mit Dr. Klaus Starl vom European Training and Research Centre for Human Rights and Democracy (ETC) in Graz Initiatorin des EU-Drittmittelprojekts „PROMISE“. Hierbei geht es um einen Ansatz zur Förderung von Migrantinnen in der naturwissenschaftlichen Bildung. Der CL, den es nicht nur in Berlin, sondern auch in Wien, Sarajewo und Istanbul gibt, ist eine Aktivität innerhalb des Promise-Projekts. Im nächsten Monat, vom 17.-20. Mai, treffen sich alle Lise Clubs zur zweiten internationalen Konferenz in Sarajewo.
Mentoringkonzept institutionalisieren
Im September 2007 endet Promise. Aber nachdem der CL sehr erfolgreich war, existiert die Idee, die Mädchenförderung am HU-Physikinstitut fest zu etablieren. Ein Mentoringkonzept dafür hat Tajmel bereits in Vorbereitung. So könnten die CL-Mädchen aktiv als Tutorinnen eingebunden werden. Dadurch würde die Nachwuchsförderung sowohl altersmäßig nach oben hin (CL-Mädchen, die bereits Studentinnen sind) als auch nach unten hin (Ausweitung des CL bis zur 7. Klasse, betreut von älteren CL-Mädchen und von Studentinnen) gewährleistet sein. Probiert haben die Mädchen das bereits zur „Langen Nacht“ 2006, beim Girls' Day, Projekttagen und Workshops.
Mädchen haben komplexeren Zugang zu Naturwissenschaften
Die Frage, ob das Interesse für die Naturwissenschaften von Melanie, Aysegül und anderen CL-Mädchen in Deutschland eher eine Ausnahme ist, kann Tanja Tajmel nur verneinen. „Mädchen lieben Physik, aber auf andere Weise als Jungen“, sagt sie. Der Physikunterricht an der Schule ist nach wie vor auf die Interessen von Jungen ausgerichtet: Als "Beispiele aus der Lebenswelt" kommen Autos, Fußball, Raketen und Pistolenkugeln vor. Aus diesen und ähnlichen Gründen "verabschieden" sich die Mädchen von der Physik – nicht weil sie Physik nicht mögen, sondern weil sie und ihre Interessen in der Physik, die ihnen gezeigt wird, nicht vorkommen. Tajmel hat fünf Jahre als Gymnasiallehrerin in Österreich unterrichtet. Statt reiner Technikvermittlung erfolgt für die Schülerinnen der physikalische Zugang und das Interesse an Naturwissenschaften oft z. B. über die Biografien der Erfinder, die Auseinandersetzung mit deren Lebenswelt und deren Problemen, dem Fehlerprozess während einer physikalischen Entwicklung oder auch über die ökologischen Auswirkungen einer Erfindung, so Tajmels Erfahrungen. Und andere Länder, wie z. B. Bosnien-Herzegowina, wo die Hälfte der promovierten Physiker weiblich sind, beweisen, dass Frauen dieses Fachgebiet genauso spannend finden wie Männer.
Kontakt:
Tanja Tajmel
Tel.: 2093-8008