Keine eigene Jugendbewegung
Essay von Autorin Lea Streisand zum Generationenbegriff
Generationenwechsel. Ich musste das Wort erstmal googeln, Boomer im Geiste, der ich bin.1 Immerhin wollte ich nicht sofort im Duden nachschlagen, das hätte mich als Greisin enttarnt.
Tatsächlich konnte ich mit dem Generationenbegriff nie sonderlich viel anfangen. Florian Illies‘ Bestseller „Generation Golf“ aus dem Jahr 2000 hat mich nie gemeint, meine Eltern hatten keinen Führerschein und ihre Freunde fuhren Trabant oder Wartburg.
Ich wurde 1979 in Ostberlin geboren und das Erste, das mir zum Begriff Generation einfiel, war ein britischer Rocksong aus dem Jahr 1965.
Ich gehörte zu den Revival-Hippies der Neunziger, die die Popkultur ihrer entgrenzten Gegenwart nach Mauerfall und Wiedervereinigung voller orientierungsloser Eltern und ratloser Lehrer:innen mit den Codes und Insignien der Rebellion ihrer Vorgängergeneration anreicherte. Was meine Mutter mehr als einmal zu dem Ausruf „Könnt ihr euch keine eigene Jugendbewegung suchen?“ veranlasste, als sie sowohl ihre Schallplatten als auch ihre Klamotten im Kinderzimmer wiederfand.
Mein Vater schrie nur angeekelt „Iiiihhh, Siebziger!“, als ich mit meiner ersten Schlaghose nach Hause kam. Er war nie Hippie, er verehrte die Beatniks, huldigte dem Jazz und stolzierte mit einem als Arroganz getarnten spätpubertären Minderwertigkeitskomplex durchs Leben, an dem er schließlich zugrunde gehen sollte. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die Idee der Generation als soziologischer Einheit von Gleichaltrigen wurde vor rund hundert Jahren von Karl Mannheim als Instrument des Sprechens über das generationsübergreifende Trauma des Ersten Weltkriegs entwickelt. Zur selben Zeit übrigens, da Remarques „Im Westen Nichts Neues“ als Vorabdruck in der renommierten „Vossischen Zeitung“ erschien, genau zwischen den Weltkriegen.
Die Wirkungsmacht dieses Textes lag vermutlich bei jener der Fernsehübertragung der Mondlandung. Alle hatten Remarque gelesen. Und wer ihn nicht gelesen hatte, behielt das wohlweislich für sich.
Literatur erzeugt Identität. Indem ich tatsächliche und/oder fiktive Ereignisse erzählend aneinanderreihe, erschaffe ich ein Narrativ, das, je sorgfältiger ich meine Arbeit mache, desto „logischer“ erscheint. Ich nenne es den Agatha-Christie-Effekt des Lesens, das angenehme Kribbeln im Belohnungszentrum des Gehirns, wenn die Erkenntnis kommt: „Ja, das passt! Genauso geht es mir auch.“
Die Deutschen wussten doch gar nicht, was ihnen passiert war, ehe Erich Maria es ihnen erzählte. Das war die Folie, an der sich künftig abgearbeitet zu werden hatte. Genauso wie sich Ende der 1920er auf jeder Party zwischen Berlin und New York mit raunender Stimme im Zigarettenqualm über die eigenen feuchten Träume unterhalten wurde, weil man Freud gelesen haben musste.
Das Generationenkonzept bemisst sich an gemeinsamen Erfahrungen, Produkten, historischen Ereignissen. Heutzutage wird es vor allem zu marktwirtschaftlichen Zwecken genutzt, um Leuten Sachen zu verkaufen, die sie nie haben wollten.
2025 beginnt angeblich eine neue Generation. Für mich begann das neue Zeitalter bereits vor einem Jahr. Seit dem 7. Oktober 2023 und den reflexartigen Schuldzuweisungen an die Opfer des größten Judenpogroms seit der Shoa zweifle ich noch mal sehr viel grundsätzlicher an meiner Zugehörigkeit zu irgendeiner Generation. Als jüdische Frau mit Behinderung aus Ostberlin bin ich, wenn pauschal von deutscher Gegenwartsgesellschaft gesprochen wird, nämlich meistens nicht gemeint.
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1 Der Begriff Boomer existiert nur im generischen Maskulinum, hat mit Friedrich Merz zu tun. Klären wir in der nächsten Stunde.
Lea Streisand schreibt Romane, Essays und Kolumnen. Sie ist Mitherausgeberin des Bandes „Sind Antisemitisten anwesend? – Satiren, Geschichten und Cartoons gegen Judenhass“, der jetzt im Satyr Verlag erschienen ist.