Gemeinsame Sprache für Struktur der Materie entdecken
Sonderforschungsbereich „Raum • Zeit • Materie“ bewilligt
Pressemitteilung Nr. 214/2004 der Humboldt-Universität zu Berlin
Eine Annäherung zwischen Physik und Mathematik: Im neuen Sonderforschungsbereich „Raum-Zeit-Materie“ an der Humboldt-Universität arbeiten Wissenschaftler aus zwei naturwissenschaftlichen Grundlagenwissenschaften zusammen. In der ersten vierjährigen Periode werden Spezialisten der Geometrischen Analysis und der Differentialgeometrie, der Stringtheorie und der Kosmologie in zehn Projekten gemeinsam nachdenken. Institutionell werden Mathematiker und Physiker der Humboldt-Universität, die mit Prof. Dr. Jochen Brüning auch den Sprecher stellen wird, der Freien Universität, der Universität Potsdam und des Albert Einstein-Instituts, Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in Golm, an diesem Vorhaben beteiligt sein. Die Tatsache, dass der neue SFB seine Arbeit zu Beginn des Internationalen Einstein-Jahres aufnehmen wird, betrachten die beteiligten Wissenschaftler als ein besonders glückliches Zusammentreffen.
Im Jahre 1918 publizierte Hermann Weyl sein berühmtes Buch "Raum • Zeit • Materie". Er legte damit eine umfassende und kohärente Darstellung von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie vor, in die er die physikalischen, mathematischen und philosophischen Grundlagen ebenso einschloss wie die Folgerungen, die sich zu seiner Zeit daraus ergaben. Weyl war sich der Tatsache bewusst, dass Wissenschaft und Philosophie in eine völlig neue Phase eingetreten waren, für die ihm das komplizierte Zusammenspiel von Raum, Zeit und Materie als Signatur dienen sollte.
„Er mag vielleicht sogar gehofft haben, dass die Menschheit definitiven Antworten auf einige brennende Fragen näher gekommen sei, nach vielen Jahrzehnten schmerzhafter Modernisierung“, so Prof. Dr. Jochen Brüning, Sprecher des neuen SFBs. „Heute – 86 Jahre später – wissen wir, dass definitive Antworten mindestens so weit entfernt sind wie in den Tagen von Hermann Weyl, in der Wissenschaft wie in der Philosophie. Aber wir wissen auch, dass das letzte Jahrhundert eine Fülle neuartiger und fundamentaler Einsichten mit sich gebracht hat.“
Die Entdeckung der Quantenmechanik im Jahre 1925 entfaltete eine enorme Auswirkung auf Wissenschaft, Ökonomie und Politik, sie brachte aber auch eine gewaltige wissenschaftliche Herausforderung mit sich: Die Quantenwelt und Einsteins Sicht des Universums erwiesen sich als theoretisch unvereinbar, und diese Unverträglichkeit galt es aufzulösen. Dieses Ziel ist sicher noch nicht erreicht, aber der unermüdliche Marsch der Ideen hat unser Wissen in Mathematik und Physik beispiellos gesteigert. Die Entdeckung der String-Theorie hat erneut die Hoffung geweckt, dass die Struktur der Materie und die Struktur des Universums in einer gemeinsamen Sprache ausgedrückt werden und ihre Widersprüche schließlich im Rahmen einer einheitlichen Theorie aufgehen können. „Den eindrucksvollsten Unterschied zwischen der heutigen Sicht und der Darstellung von Hermann Weyl sehen wir in dem, was man die "Geometrisierung der Materie" nennen könnte, d.h. in der Geometrisierung der internen Struktur der Elementarteilchen“, unterstreicht Prof. Brüning. Die Entwicklung der Quantenmechanik zur Quantenfeldtheorie und die neuen geometrischen Konzepte der Materie haben auch ein neues Verhältnis zwischen Mathematik und Physik mit sich gebracht. Die Komplexität und Subtilität der mathematischen Werkzeuge hat stark zugenommen und so die Physiker zu einem systematischeren Austausch mit den Mathematikern bewogen als jemals zuvor, während neue Konstruktionen, verblüffende Voraussagen von mathematischen Resultaten und reizvolle Fragestellungen aus dem Nachdenken der Physiker erwuchsen, die eine wachsende Zahl von Mathematikern anzogen und zunehmend bedeutende Resultate zeitigten.
Neu erscheint in diesem Prozess ein aktives und folgenreiches gegenseitiges Interesse an den grundlegenden Prinzipien der jeweils anderen Disziplin zu sein. Die Physik hat Konzepte wie das Feynman-Integral oder die Spiegelsymmetrie entworfen, die, obwohl sie auf keinen Fall mathematisch rigoros sind, dennoch richtige Resultate voraussagen, die kein Mathematiker auf der Basis des bestehenden Wissens auch nur hätte vermuten können. Auf diese Weise ist das Reich sehr spezieller Strukturen, die als mögliche Kandidaten für die Modellierung von Raum, Zeit und Materie gelten können, in atemberaubender, aber auch sehr mysteriöser Weise bereichert und geordnet worden. Die Mathematik andererseits hat viel tiefere Einsichten entwickelt in die Natur des "Speziell-Seins" von wesentlichen speziellen Strukturen, in dem sie deren Bausteine, Invarianten und Stabilität unter Deformationen analysiert hat. Diese bedeutsame Annäherung zwischen Physik und Mathematik könnte den Weg bereiten für die Entstehung eines neuen wissenschaftlichen Feldes mit einer alle diese Erfahrungen gemeinsam überspannenden Sprache und einer gemeinsamen Sammlung von Beispielen und Methoden – und damit wohl auch mit einer gesteigerten Fähigkeit, alte Probleme zu lösen und neue, weitreichende Theorien zu formulieren.
Prof. Brüning: „Die Wissenschaftler, die sich in dieser Forschungsinitiative zusammengeschlossen haben, sind fasziniert von dieser Perspektive und außerordentlich angeregt durch die große Zahl herausragender Resultate, die in den letzten Jahren im Schnittpunkt von String-Theorie und Kosmologie, Geometrie und Analysis erzielt worden sind, unter Benutzung von Methoden und Anregungen aus allen drei Gebieten. Wir haben bewuss den klangvollen und historisch bedeutsamen Namen von Weyls Buch „Raum • Zeit • Materie“ als Titel für den nun eingerichteten Sonderforschungsbereich gewählt, um sowohl den Anspruch wie die Ernsthaftigkeit der Forschungsarbeit zu unterstreichen, die uns in den kommenden Jahren beschäftigen wird.“
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Jochen Brüning
Institut für Mathematik und Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik
Telefon: (030) 2093-2563