Gefühlt immer jünger
Forschende der Humboldt-Universität zeigen: Menschen fühlen sich heute jünger als die Generationen vor ihnen
Der Blick in den Spiegel verrät: Gefühltes Alter ist nicht chronologisches Alter. Plagt eine 37-Jährige zum Beispiel der Ischias, dann flucht sie: „Ich fühl‘ mich wie 80!“. Wie alt sich indes die 70-Jährigen fühlen, die auf Rennrädern an der Humpelnden vorbeirasen, ist nicht überliefert. Hier kann Forschung aushelfen. Einer aktuellen Studie zufolge fühlen sich die Rennradelnden wahrscheinlich wie 58 – zwölf Jahre jünger als sie tatsächlich sind. Diese und andere Durchschnittswerte haben Markus Wettstein und sein Team von der Humboldt-Universität zu Berlin ermittelt. Die Forschungsfrage: Fühlen sich Menschen grundsätzlich jünger, als sie sind, und verstärkt sich dieser Effekt im historischen Vergleich – fühlen sich Ältere heute also (noch) jünger als ältere Personen vor zehn, 20 oder 30 Jahren?
Um zu einer Antwort zu kommen, werteten die Forschenden Daten aus dem Deutschen Alterssurvey aus. Hier werden Studienteilnehmende nach ihrem gefühlten Alter und weiteren Parametern befragt. „Wir wissen, dass Personen, die sich jünger fühlen, im Schnitt länger leben, im Alter gesünder sind und ein besseres Wohlbefinden haben“, erklärt Wettstein. „Wenn sich Ältere heute jünger fühlen, dann ist es also sehr wahrscheinlich, dass sie auch gesünder sind, eine höhere Lebensqualität haben.“ Die Auswertung der Daten zeigt: Tatsächlich gibt es einen solchen Effekt. Wer heute 40 ist, fühlt sich im Schnitt jünger als seine Vorfahren, als sie im selben Alter waren.
Daten von knapp 15.000 Personen konnten der Entwicklungspsychologe und sein Team für die Studie nutzen. Konkret angesehen haben sie sich dabei die Jahrgänge 1911 bis 1974. „Da zeigte sich zum Beispiel: Wer 1956 40 Jahre alt war, fühlte sich im Durchschnitt 35 Jahre alt. Und wer 1974 40 Jahre alt war, fühlte sich im Schnitt 33 Jahre alt.“ Die zunehmende „gefühlte Verjüngung“ findet sich auch in den anderen Altersstufen. Zudem steigt das gefühlte Alter zwar mit dem chronologischen Alter an. Bei den später Geborenen jedoch passiert das nicht im selben Ausmaß wie bei den früher Geborenen. Wir bleiben heute also länger „gefühlt jung“.
Doch wie kommt es, dass sich Menschen mit jeder neuen Generation jünger fühlen? „Wir haben unter anderem auf Bildung kontrolliert, auf Krankheiten und auf Einsamkeit, aber nichts davon scheint diesen Effekt komplett zu erklären.“ Die gestiegene Lebenserwartung könne jedoch eine Rolle spielen. „Früher war vielleicht 80 schon sehr alt und Personen haben sich entsprechend alt gefühlt. Heute werden immer mehr Menschen 100 Jahre alt, da verliert ein Alter von 80 vielleicht seinen Schrecken und Personen fühlen sich weniger nah am Tod.“
Engstirnig, nicht mehr lernfähig, besserwisserisch – auch Altersstereotype könnten das gefühlte Alter beeinflussen, Menschen dazu animieren, sich innerlich jünger zu machen. So zeigen etwa Studien aus den Vereinigten Staaten: Altersstereotype sind in den vergangenen zweihundert Jahren immer negativer geworden. „Für Deutschland ist mir keine entsprechende Studie bekannt, aber falls die Stereotype auch hier negativer geworden sind, dann sehen sich Personen vielleicht heutzutage auch stärker genötigt, sich jünger zu fühlen, als sie sind“, mutmaßt der Forscher. Hintergrund der Überlegung ist, dass die Befragten dann nicht „zu dieser Gruppe älterer Menschen gehören wollen, die negativ bewertet wird“.
Ob negative Stereotype der Grund für die gefühlte Verjüngung sind oder nicht – sie in Frage zu stellen, zahlt sich aus. „Je negativer wir über das Älterwerden denken, desto größer ist die Gefahr, dass wir selbst nicht gesund alt werden: Die Stereotype, die wir über ältere Menschen haben, treffen irgendwann uns selbst.“ Menschen, die sich das höhere Alter als eine Zeit im Leben vorstellen, in der sie nicht mehr fit sind oder dazu lernen können, hörten so beispielsweise eher auf, Sport zu machen oder sich mit Neuem zu beschäftigen. „Stereotype werden dann zu einer Art selbsterfüllender Prophezeiung. Auch das ist ein Grund, warum dagegen angekämpft werden sollte.“
Abseits negativer Stereotype jedoch hat gefühlte Verjüngung viele Vorteile – und Wettstein plädiert daher für Pragmatismus. „Was wäre der Vorteil, wenn Leute sich nicht jünger fühlen, als sie sind? Im Zweifel ist das weniger gut für ihr Wohlbefinden und auch weniger gut für ihre Gesundheit. Deswegen sollte diese Selbstwahrnehmung nicht unbedingt geändert werden. Und ist es letztlich falsch, wenn jemand sagt: Ich fühle mich zehn Jahre jünger? Es ist ein subjektives Gefühl, und wer soll das widerlegen?“
Nora Lessing für Adlershof Journal
Neueste Studienergebnisse der Altersbilderforschung präsentieren und diskutieren Markus Wettstein und Kolleg:innen in der sechsteiligen Podcastreihe „Science Update“.
Dr. Markus Wettstein — Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin