Eine Pipeline voller Ideen
Zwei Start-ups aus dem Charlottenburger Innovations-Centrum CHIC machen unser Leben einfacher und angenehmer
Sebastian Denef ist ein Workaholic. Ungeachtet dessen ist er überzeugt, dass wir alle in naher Zukunft weniger arbeiten werden. Wie passt das zusammen? Noch im vergangenen Jahr war er Forscher am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, bereits mit 18 Jahren hat er sein erstes Unternehmen gegründet. Jetzt managt er das IT-Start-up OWN.space, das seit März 2018 im Charlottenburger Innovations-Centrum CHIC in Berlin angesiedelt ist, und auch dessen Dependance in der russischen Satellitenstadt Innopolis, nahe Kasan. Daneben unterrichtet er an der Innopolis Universität, der Top-IT-Universität Russlands, aus der er einen Großteil seiner Mitarbeiter rekrutiert. Die Frage, die Denef dabei unermüdlich antreibt, ist: Wie ermöglicht künstliche Intelligenz uns neue, bessere Arbeitskulturen und -strukturen?
Die Antwort des 16-köpfigen OWN.space-Teams darauf sind digitale Agenten. Sie heißen Nachrichtenagent, Wissenschaftsagent, Finanzierungsagent, Firmenagent, Agent für geistiges Eigentum und es gibt noch einige mehr. „Das Besondere an unseren Agenten ist, dass sie KI nutzen“, sagt Tatjana Samsonowa, Co-Gründerin von OWN.space. So recherchieren sie etwa in Nachrichtenquellen, sortieren Informationen, erstellen Zusammenfassungen von wissenschaftlichen Texten, analysieren soziale Medien und visualisieren die Ergebnisse. Alle Informationen werden auf einer digitalen Pinnwand gesammelt, auf die alle Teammitglieder eines Projektes gleichzeitig zugreifen können.
Erste Prototypen und Testläufe sind erfolgversprechend. Dazu gehört eine Zusammenarbeit mit der wissenschaftlichen Verlagsgruppe Springer Nature AG & Co. KGaA. „Möchte ich mich zu einem wissenschaftlichen Thema auf den neuesten Stand bringen, liefert mir der Wissenschaftsagent nach dem Durchforsten der Datenbanken mit über 48.000 Journals und 200 Millionen Artikeln in wenigen Minuten die Ergebnisse. Das spart mir zwei Wochen Zeit im Vergleich zu eigener Recherche“, so Denef.
Auf verschiedensten Gebieten kommen die virtuellen Assistenten bereits zum Einsatz. Applikationen gibt es beispielsweise für die Polizei in Bayern, wo Kriminalisten jederzeit auf alle für einen Fall benötigten Informationen Zugriff haben. Durch automatisierte Vergleiche können Verbindungen zu ähnlichen Fällen aufgedeckt und Muster erkannt werden. Die Leibniz-Gemeinschaft lässt sich zu Forschungsförderprogrammen informieren und die Schaeffler-Gruppe zu Technologietrends. Weil die Akquisition von Kunden mit der Ideenfülle nicht Schritt halten kann, hat das OWN.space-Team auch Forschungsanträge gestellt: für einen Agenten, der bei der Jobsuche hilft, sowie einen Agenten, der bei Krankheit unterstützt. Ansatz der KI-Spezialisten ist es, existierende intelligente Dienste einzubinden. Die Agenten arbeiten mit unterschiedlichen Programmen, etwa mit dem von IBM entwickelten Watson oder Microsoft-Diensten zusammen. Alle bisher entwickelten Agenten lassen sich auf der OWN.space-Website kostenfrei testen.
Fragt man Sebastian Denef, welchen Agenten er sich selbst noch wünscht, ist es einer, der ihn bei der Lehre unterstützt. Mal sehen, wann er dafür Zeit findet. Momentan trainiert der Vater einer zweijährigen Tochter in seiner Freizeit auch noch für den Berlin-Marathon.
Ein ähnlich straffes Arbeitspensum wie Denef hat Peter Udo Diehl von der Firma Audatic, die ebenfalls Mieter im CHIC ist. Diehl und Firmenmitgründer Elias Sprengel wollen mittels KI die Qualität von Hörgeräten revolutionieren. Der Markt ist riesig: „360 Millionen Menschen weltweit sind schwerhörig und sollten ein Hörgerät tragen, nur 15 Prozent davon tragen eins“, sagt Diehl. Moderne Hörsysteme sind heute zwar klein und so gut wie unsichtbar, Hauptkritikpunkt der meisten Hörgeräteträger sind aber störende Hintergrundgeräusche. Das weiß Diehl nicht nur von seiner 91-jährigen Oma, die eine Hörhilfe benötigt, sondern auch durch Recherche bei über 50 Hörgeräteakustikern.
Das war im Frühjahr 2017. Diehl und Sprengel, die damals noch in Vollzeitjobs bei anderen Unternehmen tätig waren, nahmen ihren Jahresurlaub zum Programmieren eines Prototyps, der Störgeräusche eliminiert. Audatic wurde im Februar 2018 gegründet. Zwischen Berlin und Zürich schwankte die Standortwahl. Das Pendel schlug letztlich für die deutsche Hauptstadt aus. „Die wichtigste Ressource für ein KI-Start-up sind Talente und die zieht es nach Berlin“, sagt Diehl. Das Team von Audatic ist international aufgestellt, zehn Mitarbeiter sind es derzeit.
Herzstück des Unternehmens ist der Serverraum. Dort laufen zwei Dutzend Rechner im Deep-Learning-Dauerbetrieb. Sie lernen, Sprache zu erkennen und von Hintergrundgeräuschen zu trennen. „Das ermöglicht selektives Hören“, sagt Diehl. Auch eine personalisierte Audioumgebung zu schaffen wird so möglich, z. B. für Augmented-Reality-Anwendungen. Wer die Virtual-Reality-Brille aufgesetzt hat und sich am Strand wähnt, hört dann statt des Serverrauschens nur noch Wellenrauschen.
Die erste Audatic-Version funktioniert auf dem Smartphone. Ob im Restaurant, unterwegs über die Freisprechanlage im Auto oder beim Geschäftstreffen: Der Gesprächspartner ist damit gut zu verstehen, alle anderen Geräusche weitgehend ausgeblendet. Noch fehlen viele Funktionen, die man zum Hörgerät braucht, aber „wir führen derzeit Gespräche mit Hörgeräteherstellern und Tech-Giganten wie Google und anderen“, so Diehl. Er kalkuliert, dass das erste Produkt innerhalb von einer App Ende des Jahres entwickelt ist. Bis zur Umsetzung ihrer Idee als Integration in ein Hörgerät wird es allerdings noch ein paar Jahre dauern.
Diehl, gebürtiger Thüringer, der vorher nicht nur in der Forschung, sondern auch bei der Unternehmensberatung McKinsey gearbeitet hat, brennt für sein Unternehmen, 70-Stunden-Wochen sind für ihn normal. Seine Energiedepots lädt er beim Sport auf, beim Erkunden der Berliner Kulturszene und als begeisterter Hobby-Bartender.
von Sylvia Nitschke für Adlershof Journal