Digitale Revolution ist die Rache der Autisten an den Narzissten
Essay von Christoph Holz, bekennender Nerd, Autor und Keynote-Speaker
„Habt Ihr wirklich gedacht, ich wäre normal?“, sagte Elon Musk, Inhaber der Social-Media-Plattform X und Mitbegründer mehrerer Unternehmen, bei seinem Auftritt bei Saturday Night Live. Warum wirken wir IT-Nerds eigentlich immer ein wenig sonderbar? Es liegt daran, dass wir sonderbar sind. Die Nähe zum Autismus ist nicht ganz zufällig. Ohne zumindest eine kleine Kommunikationsstörung könnten wir gar nicht so viel Zeit vor einem Computer verbringen. Der Laptop ist unsere Kommunikationsprothese.
Jüngere, aber nicht ganz unumstrittene Forschung legt nahe, dass emotionale und systematisierende Intelligenz an den gegenüberliegenden Enden eines Spektrums liegen. Menschen mit Autismus schneiden bei Tests von sozialer Intelligenz eher schlecht ab, während sie beim Erkennen von Mustern und Regeln sehr erfolgreich sind.
Die Entstigmatisierung psychischer Herausforderungen ist ein großer Fortschritt unserer Zeit. So wissen wir, dass eine kleine Portion Narzissmus durchaus ein Erfolgsfaktor sein kann. Ohne gewisse autistische Züge wären Bill Gates, Elon Musk und viele andere wohl kaum so erfolgreich in Feldern geworden, wo es auf Systematik ankommt. Früher brauchte es ein wenig Narzissmus, um erfolgreich zu sein. Heute ist es etwas Autismus. Gott sei Dank habe ich beides.
Was haben sich die Zeiten geändert: Von belächelten Außenseitern sind die Nerds zu den Gestaltern der Zukunft geworden. Die Zukunft wird gar nicht mehr gestaltet, sie wird programmiert. Auf diese Verantwortung waren wir nicht vorbereitet. Wir wollten nur spielen.
Wir Nerds haben unsere Diskriminierung in Weltherrschaft verwandelt. Anstatt uns zu Opfern einer ungerechten Gesellschaft zu stilisieren, haben wir uns nach unserem Ebenbild eine bessere Welt geschaffen. Corona hat uns dabei geholfen. Da könnten sich andere Emanzipationsbewegungen eine Scheibe abschneiden.
Der Test findet an der Kasse des Supermarktes statt. Die Testfrage lautet: Welche Lebensmittel kommen ganz vorne auf das Band? Wer sich über diese Frage wundert, ist sicher kein Nerd. Ein Nerd antwortet sofort: „Die schweren und großen Dinge. Die leichten, empfindlichen und kleinen Sachen kommen an das Ende.“
In der Fachsprache handelt es sich um eine sogenannte First-in-First-out-Warteschlange. Nerds lassen beim Einpacken kein Chaos entstehen. Die Gegenstände werden bereits am Fließband so angeordnet, dass sie wenig später optimal in die Einkaufstasche passen. Wie bei Tetris.
Niemand kann Kritik an den führenden Denkschulen und Geschäftsmodellen der Digitalisierung eloquenter formulieren als die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff. Sie beschreibt den von ihr sogenannten Überwachungskapitalismus als „Abschöpfung persönlicher Daten, um mit Verhaltensvorhersagen von Menschen Gewinne zu erwirtschaften“.
Zuboff beschäftigt sich mit der Frage, wie normale Menschen eine Heimat in dieser digitalen Zukunft finden sollen. Niemals wollten wir Nerds anderen die Heimat in der Zukunft streitig machen. Wir wollten lediglich selbst auch eine Heimat finden. Aber das ist ein Gemeinschaftsprojekt. Eine gute Zukunft entsteht nicht aus Einzelleistung. Sie muss verhandelt werden. Es ist also hoch an der Zeit, nicht übereinander zu reden, sondern miteinander.
Der Informatiker Christoph Holz ist bekennender Nerd, Autor und Keynote-Speaker. Als Hochschullehrer und in seinem Podcast DIGITAL SENSEMAKER beschäftigt er sich mit den Fragen digitaler Ethik.