Der Stau-Professor
Berlinews Interview mit Prof. Reinhart Kühne von DLR-Institut für Verkehrsforschung in Adlershof
Frage: Herr Professor, am Flughafen Tegel sind die befürchteten Staus ausgeblieben. Hat das den Verkehrsforscher überrascht, der sich seit Jahren mit dem Phänomen Staus auf der Straße beschäftigt?
Prof. Kühne: Nein, eigentlich nicht. Denn zum einen ist das Berliner Verkehrssystem leistungsfähig genug, um auch solche Sonderbelastungen aufzunehmen. Wir haben in Berlin schon von der Geographie her keine vorgegebenen Beschränkungen, wie etwa den Talkessel in Stuttgart oder die breite Elbe in Hamburg. Durch die Möglichkeit, Verkehr flächiger zu verteilen, stecken im Berliner Straßennetz noch einige Reserven. Wir haben rund 1,7 Millionen Autos in Berlin. Von denen sind in Spitzenzeiten 10 Prozent unterwegs. Der zweite Punkt, und das hat im Falle Tegel einigermaßen geklappt mit 40 Minuten Verzögerung bei der Fahrzeit - was schon viel ist - das ist die Gestaltung neuralgischer Knotenpunkte des Verkehrs, nämlich den Kreuzungen und Ampeln. Offenbar konnten hier nicht alle Ampeln entsprechend programmiert werden. Im Verkehrsfluß dürfen keine "Pfropfen" entstehen, wie wir Verkehrswissenschaftler sagen. Andernfalls kommt es schnell zum Stau. Und ein weiterer Punkt ist die Beeinflussung des Nutzerverhaltens. Schon die Ankündigung "Riesenstau in Tegel droht" hat etliche Autofahrer dazu gebracht, auf anderen Strecken zu fahren oder auf die S-Bahn umzusteigen, wo das möglich war.
Wie gewinnen Sie Ihre Erkenntnisse über die Geheimnisse des Verkehrs?
Kühne: Wir haben hier in Adlershof, in direkter Nachbarschaft zu unserem Institut für Verkehrsforschung, eine der größten Messstrecken für Autoverkehr in Deutschland eingerichtet. Am Ernst-Ruska-Ufer, dem Autobahnzubringer parallel zum Teltow-Kanal, erheben wir seit drei Jahren mit vielen Kameras und Sensoren in der Fahrbahn Verkehrsdaten. Hier fahren im Schnitt 30.000 Fahrzeuge am Tag vorbei. Und wir sehen genau, aus welcher Ursache heraus und wie schnell ein Stau entsteht. Diese Real-Daten ermöglichen uns, im Rechner Modellierungen künftiger Verkehrsentwicklungen vorzunehmen. Zusammen mit den Taxis, die wir ebenfalls in Berlin als Verkehrsdaten-Sammkler einsetzen, können wir dann schon vorher simulieren, wie sich der Verkehr in Berlin am Tag der Loveparade verändert oder wenn plötzlich starker Schneefall einsetzt. Erste größere Probeläufe dieses dynamischen Modells der Straßenbelastung hatten wir gemeinsam mit Forschern der TU Berlin bei der Fußball-Weltmeisterschaft. Wir erreichten eine Treffergenauigkeit von 20 Prozent bei einer Halbstunden-Halbstunden-Prognose, was im Verkehrsbereiche eine hohe Präzision bedeutet.
Was sind die Ergebnisse der Stauforschung?
Kühne: Stau ist nicht gleich Stau. Die Verkehrsforschung hat festgestellt, dass es zwischen dem Stau mit Stillstand und dem fließenden Verkehr einen dritten Zustand gibt. Bei ihm ist der Verkehr durch irgendeine Ursache - eine Baustelle oder einen Unfall - zwar stark beeinträchtigt. Auf der Autobahn haben wir dann Geschwindigkeiten von 40 bis 80 Stundenkilometern. Trotzdem kommt es nicht zum völligen Stillstand, sondern der Verkehr bewegt sich nur zähflüssig fort, aber auf allen Fahrspuren synchron. Das ist die Besonderheit dieses Zustand, den wir "synchronisierten Verkehr" nennen. Man kann diese Phasen auch mit den drei Aggregat-Zuständen vergleichen, die das Wasser hat: als Eis, als Flüssigkeit oder als Wasserdampf.
Welche praktischen Wirkungen haben Ihre Simulationen, etwa für die Berliner Verkehrspolitik?
Kühne: Eine ganz konkrete Folge für unser Gebiet in Adlershof war zum Beispiel die Änderung der Planungen für die Verbreiterung der Brücke am S-Bahnhof Adlershof. Unsere Simulationen hatten gezeigt, dass es bei einer kompletten Schließung der Baustelle für den Verkehr zum Dauerstau an der Kreuzung Ernst Ruska-Ufer und Adlergestell kommen würde. Das haben beim Bezirksamt die Alarmglocken geläutet. Jetzt lässt die Deutsche Bahn AG bei ihrem Bauvorhaben, das seit dem 1. September läuft, den Verkehr wenigstens in einer Spur unter der Brücke durchlaufen. Das ist praktische Stauvermeidung.
Hat die Verkehrsforschung auch wirtschaftliche Auswirkungen?
Kühne: In der Tat, und sogar hier am Ort. Zur Zeit erleben die mobilen Navigationsgeräte, die mit Satelliten-Ortung arbeiten, ja einen ungeheuren Boom. Von diesen "Personal Navigation Devices" werden in diesem Jahr weltweit rund 15 Millionen Geräte verkauft, in 2005 waren es noch 8 Millionen Stück. Marktführer ist die holländische Firma Tomtom mit 5 Millionen Geräten in diesem Jahr. Drei Wissenschaftler meines Instituts sind jetzt zu dieser Firma gewechselt und bauen hier in Adlershof die Berliner Niederlassung von Tomtom auf. Mich freut, dass sie dort auch weiter Forschung und Entwicklung machen können. Sie entwickeln eine Technik, mit der sich Daten zum Verkehrsfluß auch von privaten Kfz übertragen lassen und an einen Zentralrechner geleitetet werden. Bisher hatten wir diese sogenannte "Floating Car Data"-Technik in Berlin nur bei den Taxen im Einsatz. Mit Privatfahrzeugen ergibt sich eine deutlich höhere Informationsdichte, was auch die Staumeldung und Umfahrungsempfehlungen dieser Navigationssystem viel besser macht. An dieser Präzision ist das Unternehmen interessiert.
Wie wird sich dieser Markt für Navigationsgeräte weiter entwickeln?
Kühne: Das lässt sich bei den mobilen Geräten nur schwer abschätzen. Vor drei Jahren, als Tomtom an den Markt ging, hätte niemand mit einem solchen Erfolg gerechnet. In den Autos gibt es die fest installierten Navigationssysteme schon seit fast 15 Jahren. Fast ein Fünftel der neu ausgelieferten Fahrzeuge verfügt heute über ein Navigationssystem. Aber erst seit drei Jahren, seitdem sich die mobilen Navi-Systeme durchsetzen konnten, spricht man von einem boomenden Markt. Das weitere Wachstum werden neue Nutzergruppen, wie Radfahrer oder Fußgänger und Wanderer bringen. Das verlangt die schnelle Entwicklung geeigneter Software. Da ist Berlin recht gut aufgestellt, wie jüngst ja auch die Übernahme der Softwarefirma Gate5 durch den Nokia-Konzern gezeigt hat.
Prof. Reinhart Kühne (Jg. 1946) leitet seit 2000 das Institut für Verkehrsforschung in Adlershof. Der promovierte Physiker arbeitete nach dem Studium in der Forschung bei AEG-Telefunken und Daimler Benz. 1998 wurde er Professor für Verkehrsplanung an der Uni Stuttgart. Kühne hat sich in den letzten Jahren auch stark in China engagiert und ist Honorarprofessor an der Tougji-Universität in Shanghai.
Verkehrsforschung in Adlershof
Das Institut für Verkehrsforschung, einer der beiden Berliner Forschungsstätten des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), besitzt mit dem „Traffic Tower“ in Adlershof über eines der modernsten Labors zur Untersuchung des Straßenverkehrs.
Kontakt:
Institut für Verkehrsforschung (IVF)
Institutsleiter: Prof. Dr. Reinhart Kühne
Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) in der Helmholtz-Gemeinschaft
Rutherfordstraße 2 - 12489 Berlin - Tel: +49 (0)30/670 55-204 - Fax: +49 (0)30/67055-202
Quelle: www.berlinews.de vom 4.12.2006