Das duale System der Welterfassung: Wo bleibt der öffentliche Diskurs?
Essay von Prof. Dr. Holger Rust, Wirtschaftssoziologe, Praktiker und Publizist
Tolle Aussichten, abenteuerliche Anmutung, zukunftsschwanger: Der Krebs wird besiegt. Blinde werden wieder sehen. Die Coxarthrose (Hüftgelenkarthrose) wird das Thema retrograder Science Fiction sein. Und klar, da wird es auch einiges geben, was die Zukunftsforscher der auf künstlicher Intelligenz (KI) basierten Biogenetik verschämt verschweigen. Zusammengefasst: ewiges Leben in Schönheit und Sex ohne Altersgrenzen, keine Falten sowieso. Doch schon treten die Mahner auf. Da gibt es ja noch die dunkle Seite des Mondes: Frankensteins Monsterfiguren, die die Weltherrschaft übernehmen! Lebensechte Roboter, die in der Wirklichkeit herumlaufen. Was ist denn, wenn man dereinst meint, von einem solchen Avatar gestalkt zu werden, ihm einfach mal das Programm abdreht, dann aber feststellt, o Gott, der war ja echt! Das heißt: Es werden Probleme entstehen, die sich kein Mensch vorstellen kann. Dinge, bei denen man glaubt, Edward A. Murphy, der in dem nach ihm benannten Gesetz feststellte, dass alles, was schiefgehen kann, auch schiefgehen wird, sei ein haltloser Optimist gewesen.
Was zum Beispiel wird geschehen, wenn die Pharmaforschung eine Pille auf den Markt bringt, mit der weltweit die Paare vor der Zeugung das Geschlecht ihrer Kinder bestimmen können? Welche Folgen hat Viagra, wenn die Väter immer älter werden, für die Hinterbliebenenrente? Oder: Werden die von KI gesteuerten Fahrzeuge eines Tages Statuskämpfe ausführen, die sie auf ihr Markenimage gründen? Denen, die „Science“ abonniert haben, sind derartige Probleme unter einem schwungvollen Begriff geläufig: Emergenzen (Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente – Anm. d. Red.).
Schon 1998 mahnte der bekannte Biochemiker Erwin Chargaff an: Wir brauchen einen Perspektivwechsel, um die größeren Zusammenhänge zu erkennen, eine, wie sein berühmter Buchtitel lautet, „Aussicht vom 13. Stock“, um nicht „die letzten Kontakte mit der Wirklichkeit und der Menschlichkeit“ zu verlieren. Wenn man schon dabei ist, die Altvorderen zu bemühen, erscheint es besonders angebracht, den Physiker und Romancier Charles Percy Snow in den virtuellen Diskurs einzuladen. C. P. Snow hatte am 7. Mai 1959 an der University of Cambridge den Vortrag „The Two Cultures and the Scientific Revolution“ gehalten. Er führte darin bittere Klage über die Kluft zwischen zwei intellektuellen Milieus, die sich mit zunehmender Arroganz begegneten: das der physikalisch-mathematischen Weltbetrachtung auf der einen und der geisteswissenschaftlich-hermeneutischen auf der anderen Seite. Fünfzig Jahre später, am 10. Mai 2009, erklärte die britische Financial Times (FT), Snows Vortrag sei „one of the most influential single lectures of the past century“. Die FT bezog sich vor allem auf Snows Fazit, das bis heute durch ein einprägsames Stichwort etikettiert ist: „Third Culture“, die Synthese aus disziplinärem Denken und der Debatte über die Folgen für die nicht erfassten Lebensbereiche.
Motto für eine Zeit, nämlich heute, in der sogenannte Pop-Philosophen und selbsternannte Zukunftsforscher die Wissenschaft auf sensationelle Einzelbefunde scannen, um sie unter lärmenden Anglizismen weiterzuverkaufen, in der vorläufige Erkenntnisse aus Hirnforschung und Genetik im Geschwätz von Talkshows auf ihren Quotenwert reduziert werden, und in Männer- und Frauenmagazinen allerlei schräge Analogien (Sexverhalten und Diäten, Waschbrettbäuche und evolutionäre Symbolik des Hinterns) Auflage bringen sollen. Fazit: Der öffentliche Diskurs muss zurückerobert werden, und zwar in einer Sprache, die auch außerhalb der klandestinen (in Verborgenen befindlichen – Anm. d. Red.) Zirkel der „White Boxes“ verständlich ist.