„Casting ist überall“
Tausche mein Leben gegen mediale Aufmerksamkeit
„Denn sie wissen nicht, was Sie tun ...“, so lautet der Titel eines Beitrags des Medienforschers Jo Reichertz von der Universität Düsseldorf zum Thema Casting-Shows. Der passende Untertitel: „Von James Dean zu Alexander Klaws“. Letzterer war, wie sich einige erinnern mögen, einer der ersten Sieger von „Deutschland sucht den Superstar“ und schwingt sich heute als Tarzan über die Musical-Bühnen Deutschlands. Ob er wusste, was er tat? Einige wissen es jedenfalls ganz genau: Die Fernsehanstalten und die Produzenten. Denn Casting-Shows gehören zu den profitabelsten Formaten im Fernsehen. Die aktuellste, „The Voice of Germany“, wird derzeit in Adlershof produziert. Mit „The Winner is ...“ ist eine weitere für SAT1 in Vorbereitung.
Im Spätherbst ging „The Voice of Germany“ auf Sendung. Hier soll alles anders werden. Das neue Format soll „keine Bühne für Freaks oder Möchtegern-Sternchen“ sein, sucht „keine pubertierenden 16-jährigen Teenies, die sich für Justin Timberlake halten, aber keinen geraden Ton herausbringen“. Der Unterschied: Zwar handelt es sich um eine Casting-Show, aber es gibt keine Castings, die gezeigt werden. Stattgefunden haben sie trotzdem.
Inzwischen muss es eng werden auf den Autobahnen, bei all den Casting-Touren. Anfang Dezember machte der Casting-Bus für „The Winner is ...“ in Berlin halt. Für die ARD-Show „Der klügste Deutsche 2011“, ebenfalls in Adlershof produziert, ging es ganze acht Wochen lang quer durch Deutschland. Doch wer steigt in diese Busse? Und wissen diejenigen, was sie damit tun? Mit dieser Frage beschäftigen sich inzwischen auch Wissenschaftler.
Die spannende Frage, so Professor Reichertz, ist: Warum stellen sich weltweit so viele junge Menschen zwischen 16 und 30 Jahren dem wertenden Urteil von Jury und Publikum? Nimmt man, so Reichertz weiter, Mutproben, Jux, Wetten und einige Störungen der Selbstwahrnehmung weg, bleibt danach die Einsicht, dass die meisten es bitterernst meinen. Denn Casting-Shows nährten die frohe Botschaft des Fernsehens, dass es ausnahmslos jeder schaffen kann, im Fernsehen Aufmerksamkeit, Ruhm und Geld zu erlangen.
Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, fragt sich: Wo ist die Schmerzgrenze bei der Suche nach Aufmerksamkeit? Und beantwortet sie auch: Sie existiert kaum noch. Die einzige Begrenzung stelle meist nur noch das Rechtssystem dar. Pörksen hat gemeinsam mit dem Journalisten Wolfgang Krischke und Studenten der Universität Tübingen Interviews geführt, mit Casting-Kandidaten, Produzenten, Moderatoren, Models und Managern, TV-Chefs, Reality-Show-Teilnehmern, PRStrategen und Politikern. Ziel war es, herauszufinden, was vor und hinter den Kulissen passiert und wohin eine Gesellschaft driftet, in der Selbstinszenierung zur Lebensform wird. 2010 erschienen die Interviews, die letztendlich von den Beteiligten freigegeben wurden, in dem Buch „Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien“ in der Edition Medienpraxis im Herbert von Halem-Verlag.
Speziell an Casting-Shows sei die Idee, dass sich Stars wie Autos oder Marken produzieren lassen, also industriell herstellbare Waren sind, durch deren Verkauf viel Geld zu verdienen sei. „... a star ist born hieß es, nicht a star is made ...“, schreibt Dietrich Helms, von der Universität Osnabrück. Und: „Was Menschen erhebt, kann sie auch erniedrigen.“ Das aber scheinen viele in Kauf zu nehmen. Bernhard Pörksen berichtet von einem Tauschverhältnis. War es bislang das Verständnis, zum Beispiel zwischen Politikern und Medien, dass der Politiker Publizität bekommt – also mediale Aufmerksamkeit – im Tausch für Nachrichten von öffentlicher Relevanz, so hat sich dieses Tauschverhältnis mit Bezug auf Casting- Shows verändert. Kandidaten verfügen selten über das Tauschgut „Nachrichten mit öffentlicher Relevanz“. Sie müssen also etwas anderes anbieten. Was? Privates, Intimes, Primitives, ja sogar Vulgäres. Pörksens beunruhigende Diagnose: „Um das Gut der Aufmerksamkeit zu erhalten, sind Menschen heute dazu bereit, sich nach Maßgabe der Medien auf bestimmte Schlüsselreize wie Intimität, Sexualität, Primitivität selbst zu verengen“.
Doch viele sind bereit, den Wegzoll in der Währung der Medien zu entrichten, wie Reichertz feststellt, also ihre soziale Identität in den Medien zu riskieren, sich vor den Augen und zum Ergötzen anderer lächerlich zu machen.
Andere betonen positive Aspekte des Formats. Man lerne, wie man sich im Job durchsetzt, erkenne Disziplin als Mittel zum Erfolg und sehe eine Chance, Karrieremechanismen und Solidarität vom Sofa aus zu erfassen. Der Medienwissenschaftler Jo Gröbel, ebenfalls befragt in Pörksens Buch, sieht sogar eine „Demokratisierung der Prominenz“, weil der Zugang zur potenziellen Prominenz sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren deutlich vervielfacht habe, die „Produktionsmittel für Prominenz (...) im Grunde jedem zugänglich sind.“ Was nichts über die Halbwertszeit dieser Prominenz sagt, denn die ist, wie Pörksen es ausdrückt, nur „bekannt dafür, bekannt zu sein“.
Beruhigend stellt das Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) fest, dass trotz Casting-Shows zum Beispiel der Model-Beruf regelmäßig weit abgeschlagen hinter dem der Tierärztin und Lehrerin landet. Doch wenn Imke Arntjen, Geschäftsführerin der Berliner Internet-Casting-Agentur 030casting.de, Recht hat, dann hat sich die Casting-Show als Fernsehformat bald erledigt: Denn das ernsthafte Problem für Casting-Shows ist natürlich nicht die erhöhte Casting-Bus-Verkehrsdichte. „Deutschland ist durchgecastet“, lautet ihr Fazit. Das Casting-Prinzip allerdings wird wohl nicht verschwinden. So hat zum Beispiel der Südwestdeutsche Rundfunk von Volontariatsbewerbern gefordert, keine der üblichen Materialien einzusenden, sondern einen fünfminütigen Film – ein Werbevideo – über sich selbst zu drehen. Der Personalrat als Jury. So sieht das auch Imke Arntjen: „Casting ist überall.“
Von Rico Bigelmann