Burnout – Pulverfass oder Hirngespinst?
Essay von Dr. Magnus Heier, Neurologe, Key-Note-Speaker und sonntäglicher Arzt auf Radioeins
Es gibt, zynisch gesprochen, drei Arten von Krankheiten: die zufälligen, die ehrenvollen und die Selbst-Schuld-Krankheiten. Über die zufälligen muss man nicht viele Worte verlieren: Sie ereilen einen, weil man etwa zur falschen Zeit am falschen Ort ist und sich eine Infektion einfängt. Oder wenn eine Bananenschale einfach an der falschen Stelle liegt.
Die zweite Art von Krankheiten sind die scheinbar ehrenvollen, die für den Cocktailempfang. Etwa ein Herzinfarkt, der ungehemmten Arbeitswillen bis zur Erschöpfung beweist. Oder ein Hexenschuss, der vom Sich-Durchbeißen zeugt. Was natürlich beides Unsinn ist. Aber gern so eingeordnet wird.
Die Selbst-Schuld-Krankheiten sind dagegen die, die nicht ernst genommen werden: Migräne ist so ein Beispiel. Erich Kästner schrieb 1931 in seinem Kinderbuch „Pünktchen und Anton” den bösen Satz: „Nach dem Mittagessen kriegte Frau Direktor Pogge ihre Migräne. Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat.“ Natürlich ist das Unsinn und das wusste auch Kästner, der selbst unter Migräne litt. Aber ebenso genau kannte er den Ruf der Migräne: Sie gilt als Pause, die man sich einfach gönnt. Wer selbst ausprobieren will, wie sich Migräne anfühlt: Ein Eis bestellen, einen großen Löffel davon in den Mund nehmen und gegen den Gaumen drücken: Das Messer, das sich dann durch den Kopf zu schieben scheint, das ist Migräne. Ein grauenvoller Schmerz – keine entspannte Auszeit.
Nun gibt es eine Krankheit, die früher verschwiegen wurde, heute aber aufgestiegen ist und umbenannt wurde: früher Depression, heute Burnout. Die Depression galt als Schwäche, der Burnout als typische Krankheit starker Mitarbeiter. Das Überraschende ist aber: Mediziner sind sich gar nicht einig, ob es den Burnout überhaupt gibt. Oder was er genau ist. In Deutschland wird er diagnostiziert, in den USA nicht. Auf jeden Fall ist er nicht nur die Übersetzung der altbekannten Depression in moderne Sprache. Eine Depression ist nicht einfach nur eine vorübergehende Erschöpfung, eine Depression ist eine schwere Krankheit. Eine Depression braucht einen Psychiater. Sofort. Was braucht ein Burnout dagegen?
Für den Patienten ist der Begriff Burnout, „ausgebrannt“, erst einmal eine große Hilfe. Wo ehemals peinliches Schweigen herrschte, wird jetzt geredet. Die Benennung erleichtert den Gang zum Arzt. Das führt zu dem Effekt, dass Zahl und Dauer von Arbeitsausfällen „wegen psychischer Leiden“ bei AOK-Patienten (bei anderen Versicherten vermutlich ähnlich) massiv angestiegen sind. Vermutlich nicht, weil wir kränker sind. Vermutlich weil psychische Erkrankungen eher bemerkt und akzeptiert (manchmal auch missbraucht) werden. Aber kann es wirklich sein, dass drei Viertel der Sozialarbeiter gefährdet sind, einen Burnout zu bekommen? Die Schätzungen sind schwindelerregend.
Und die Diagnostik ist schwierig: Erste Symptome können Schlafstörungen sein, spätere Angststörungen, Panikattacken – bei Depressionen aber auch. Wer die Diagnose Burnout bekommt, liegt im Ermessen des Arztes. Es kann nicht trennscharf diagnostiziert werden, was nicht definiert ist.
Wenn es ein Risikoprofil für den Erschöpfungszustand gibt, der vielen als Burnout gilt, dann dieses: Der typische Patient arbeitet wie eine Maschine und versucht um jeden Preis zu funktionieren. Jede Schwäche bei sich selbst wird mit noch mehr Einsatz, noch längeren Arbeitszeiten, noch mehr Disziplin kompensiert. Der einzige Ausweg: Schwäche zeigen! Anhalten! Urlaub erzwingen! Pause um jeden Preis. Wem das nicht reicht, der braucht einen Psychiater.
Der Burnout hat übrigens einen überraschenden Bruder, den Boreout. Diese Art von gelangweilter, chronischer Unterforderung ist womöglich ähnlich häufig. Auch Unterforderung macht Stress. Umso mehr, als dass sie nun wirklich nicht zu den Problemen zählt, von denen man auf einer Cocktailparty erzählt.