Bundespräsident: "Der Adler ist flügge geworden"
Grußwort von Horst Köhler zum Leibniztag
Sie wolle stets das Warum des Warum wissen - das soll Gottfried Wilhelm Leibniz über Sophie Charlotte, die nachmalige erste Königin in Preußen, gesagt haben. Nicht zuletzt ihrem Wissensdurst verdankt sich, dass Leibniz mit der Gründung der Kurfürstlich-Brandenburgischen Societät der Wissenschaften sein Ziel verwirklichen konnte: "theoriam cum praxi zu vereinigen, und nicht allein die Künste und Wissenschaften, sondern auch Land und Leute, Feldbau, Manufacturen und Commercien, und mit einem Wort die Nahrungsmittel zu verbessern (...)".
Der Mehrung des Wissens und dem Wohl des Staates und der Menschen sollte die Akademie dienen. Das ist auch heute - über 300 Jahre, nachdem Leibniz diese Zeilen verfasst hat, die doppelte Aufgabe der Berlin-Brandenburgischen Akademie. Mit ihren Forschungsvorhaben leistet sie einen wichtigen Beitrag dazu, das kulturelle Erbe der Menschheit zu erschließen und zu sichern, beispielsweise mit der Edition des umfangreichen Leibniz-Nachlasses und mit dem "Corpus Coranicum": Diese wissenschaftlich fundierte Kommentierung des Koran soll vor allem der deutschen und europäischen Öffentlichkeit ein besseres Verständnis des Koran und seiner Verflechtung mit der abendländisch-europäischen Tradition ermöglichen - und ist so ein wichtiger Beitrag der Wissenschaft zum Dialog der Religionen und Kulturen.
Zugleich trägt die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften durch ihre engagierte Nachwuchsarbeit dazu bei, auch die Voraussetzungen für die zukünftige Mehrung des Wissens zu schaffen: Zusammen mit der Leopoldina in Halle hat sie die "Junge Akademie" als neues Forum der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung in Deutschland gegründet. Und sie sorgt mit dafür, dass auf den Nachwuchs wieder Nachwuchs folgen kann: Ich finde es gut, dass die Akademie Schülerinnen und Schülern in Berlin und Brandenburg Einblicke in ihre Arbeit eröffnet und gemeinsam mit der Freien Universität Berlin den naturwissenschaftlichen Unterricht an Grundschulen fördert. Nur weiter so!
Theoriam cum praxi zu vereinigen - für die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften heißt das auch, ihr Wissen für Politik und Gesellschaft nutzbar zu machen. Ein Beispiel dafür ist der Gentechnologiebericht. Er soll die Entwicklung der Gentechnologie über längere Frist beobachten und so einen sachlich fundierten Beitrag zu der notwendigen gesellschaftlichen Debatte über die Chancen und Risiken dieser Schlüsseltechnologie leisten. Solche Beratung verstehe ich als Teil der gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft. Das setzt voraus, dass die Wissenschaft selbst immer wieder über den Rahmen, die Möglichkeiten und die Grenzen ihrer Beratungstätigkeit reflektiert: Mit den jüngst vorgestellten Leitlinien Politikberatung gibt die BBAW sich selbst, aber zum Beispiel auch der künftigen Nationalakademie Leopoldina wichtige Hinweise dafür an die Hand.
Die Leopoldina und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften haben bereits gute Erfahrungen miteinander gemacht. Ich bin deshalb zuversichtlich, dass diese beiden Akademien auch künftig gedeihlich zusammenarbeiten werden. Und ich vertraue darauf, dass auch die anderen Mitgliedsakademien der Union der Akademien der Wissenschaften und die Deutsche Akademie für Technikwissenschaften acatech die Leopoldina bei ihren neuen Aufgaben partnerschaftlich unterstützen werden. Das wäre übrigens auch ganz im Sinne von Leibniz, der sich nicht nur die Gründung mehrerer Akademien zum Ziel gesetzt hatte, sondern stets auch deren ertragreiche Zusammenarbeit anstrebte.
Wie man zu kooperieren lernt, wie man zwischen unterschiedlichen Wissenschaftskulturen vermitteln kann, darin hat die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften einige Erfahrung: Als die Akademie 1992 wiederbegründet wurde, stand sie in der fast 300-jährigen Tradition der Wissenschaftlichen Societät und der Preußischen Akademie der Wissenschaften - und sie war zugleich Baustelle und Baustein der Wiedervereinigung.
Wie vielerorts ging auch in der Wissenschaftslandschaft Berlins und Brandenburgs die Freude über die neuen Möglichkeiten, frei und gemeinsam zu arbeiten, mit der Erfahrung tief greifender und zum Teil schmerzhafter Anpassungsprozesse einher: Es galt, ein Wissenschaftssystem von maroden Strukturen und von ideologischen Verstrickungen zu befreien, ohne das bestehende Forschungs-Potential zu zerstören - und ohne die Lebensleistung von Menschen zu entwerten, die unter oft schwierigen Bedingungen ihre Arbeit vorangetrieben haben. Aus heutiger Sicht lässt sich sagen: Nicht immer sind in diesen Jahren die richtigen Entscheidungen über die Zukunft von Institutionen und Menschen gefällt worden, nicht immer ist in der schwierigen, unübersichtlichen Zeit des Neuordnens und Zusammenführens die alte Handwerkerregel beachtet worden: zweimal messen, einmal schneiden. Heute aber florieren Wissenschaft und Forschung - und dank der gewaltigen Auf- und Umbauleistung der letzten beiden Jahrzehnte vielleicht mehr denn je.
Gezielte Investitionen haben tragfähige Grundlagen für die weitere Entwicklung geschaffen. Berlin-Buch zum Beispiel gehört heute mit seinen rund 2.000 Beschäftigten in Deutschland zu den führenden Forschungsstandorten auf dem Gebiet der Biotechnologie. Auch dem Wissenschafts- und Technologiepark Adlershof hat die beachtliche staatliche Förderung erfolgreich über die Hürden des Anfangs geholfen: Zahlreiche neue Unternehmen wurden gegründet und seit Jahren wächst die Zahl der Beschäftigten: Der Adler ist flügge geworden.
Die hohe Dichte universitärer wie außeruniversitärer Einrichtungen und das damit verbundene Potential für Kooperationen machen die Stärke des Wissenschaftsstandorts Berlin aus. Diese Stärke zu erhalten und weiter auszubauen wäre ohne die enorme Leistung der Berliner Hochschulen undenkbar: Denn die Hochschulen bilden den wissenschaftlichen Nachwuchs aus und qualifizieren die künftigen Fachkräfte für Wirtschaft und Verwaltung. Angesichts der insgesamt zu geringen Ausbildungskapazitäten in Deutschland ist bemerkenswert, wie vielen jungen Menschen das Land Berlin weit über den eigenen Bedarf hinaus einen Studienplatz anbietet. Für die Stadt, die bekanntlich finanziell nicht auf Rosen gebettet ist, stellt das eine große Bürde dar. Aber dieses junge Potential bereichert zugleich den Wissenschaftsstandort Berlin - wie auch die Hauptstadt insgesamt.
Die Berliner Wissenschaftslandschaft zeichnet sich durch ihre Vitalität, durch Vielfalt in der Breite und durch herausragende Spitzeneinrichtungen aus. Berlin tut gut daran, mit diesen Pfunden zu wuchern - und ich sehe gute Anzeichen dafür, dass die in Stadt und Land Verantwortlichen dies auch konsequent tun wollen: Denn so verstehe ich zum Beispiel die Pläne, eine Stiftung zu gründen, um der Forschung in Berlin noch mehr internationale Sichtbarkeit zu verleihen. Das Wissenschaftsjahr 2010 wird eine weitere Gelegenheit sein, um die großen Traditionen der Wissensstadt Berlin zu würdigen, ihre Stärken zu unterstreichen und Visionen für ihre Zukunft zu entwickeln.
Sei kreativ, sei innovativ, sei Berlin - das passt nicht schlecht in die laufende Werbekampagne, denn genau auf diese Fähigkeiten kommt es an, damit die Stadt aus eigener Kraft leuchten kann: im Land und in der Welt. Berlin tut gut daran, dabei auch die starken Partner aus der Region einzubinden. Potsdam etwa verfügt mit seinen erstklassigen Einrichtungen in Golm oder auf dem Telegrafenberg über eigene Leuchttürme - beispielsweise in der Klima- und Geoforschung - und braucht sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen.
"Daz gantze eyland muß ein paradeys werden ..." - Diese Worte hatte Johann Moritz 1664 über Potsdam an den brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm I. geschrieben. Wer auf märkischem Sand heute Wohlstand schaffen und sichern will, muss in Brandenburg und in Berlin vor allem auf die Wissenschaft setzen. Dafür wünsche ich viel Erfolg! Vielen Dank!