Berlin ist das Tor zum Osten
EU-Erweiterung birgt viele Chancen für die mittelständische Berliner Wirtschaft - Die Große sind schon da
Von Nikolaus Doll
Berliner Morgenpost, 05.01.2004
Die EU-Osterweiterung bedeutet vor allem für die Berliner Wirtschaft neue Chancen. Unternehmen wie Berlin-Chemie, Alba oder der Verlag Axel Springer geben beim Ringen um Marktanteile in den Beitrittsländern zur EU schon jetzt das Tempo vor.
Berlin - Zehn Staaten treten am 1. Mai 2004 der Europäischen Union bei, es ist die größte Erweiterungsrunde in der Geschichte der Gemeinschaft, und keine Volkswirtschaft wird nach einhelliger Expertenmeinung so davon profitieren, wie die deutsche. Neue Märkte, neue Chancen, die EU-Kommission rechnet damit, dass der Bundesrepublik ein halbes Prozent Wachstum allein durch die Integration der Neumitglieder beschert wird. Schließlich zählen die Beitrittsländer zu den dynamischsten Märkten für deutsche Exporte. "Der Investitionsbedarf in den neuen Mitgliedsländern ist riesig", sagt Jan Eder, Hauptgeschäftsführer der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK). Und was liegt näher, als dass Berliner Unternehmen mit ihrer Ost-West-Erfahrung davon profitieren?
Die Bedingungen für Berliner Unternehmen, Geschäftsbeziehungen den Staaten in Mittel- und Osteuropa (MOE) zu knüpfen, sind günstig. Kaum 80 Kilometer entfernt liegt Deutschlands wichtigster Handelspartner unter den MOE-Staaten, Polen - mit 38 Millionen Einwohnern und einem jährlichen Wirtschaftswachstum von fünf Prozent das Schwergewicht unter den Beitrittsländern. Eine jüngst veröffentlichte Studie der Investitionsbank Berlin (IBB) belegt, dass die Warenstruktur der Berliner Exportwirtschaft "durchaus vorteilhaft" ist, um im Osten Marktanteile zu gewinnen. Und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) kommt zu dem Ergebnis, dass es einem Großteil der Unternehmen aus dem Ostteil Berlins allen Umwälzungen zum Trotz gelungen ist, Kontakte aus RGW-Zeiten zu erhalten. Für Gesamtberlin ergab eine IBB-Umfrage unter 120 mittelständischen Unternehmen, dass 2003 sogar drei Viertel der Firmen Geschäftsbeziehungen zu Unternehmen in den Beitrittsstaaten unterhalten.
Soweit die Ausgangsbedingungen - die Berliner Exportstatistik in die MOE-Länder sieht dagegen längst nicht so glänzend aus, wie man erwarten würde. Zwar hat die Warenausfuhr Berliner Betriebe in die Beitrittsstaaten von 1994 bis 2000 um jährlich zwölf Prozent und damit mehr als doppelt so stark zugenommen wie die Exporte insgesamt. Doch längst haben andere Bundesländer beim Ost-West-Handel die Nase vorn, denn im vergleichbaren Zeitraum lag das entsprechende Wachstum der gesamtdeutschen Exporte bei 18 Prozent. Keck wirbt inzwischen selbst eine Stadt wie Dortmund mit dem Slogan "Tor zum Osten". Kurios bei einer Entfernung von 500 Kilometer bis zur polnischen Grenze, andererseits wickelt Nordrhein-Westfalen fast ein Viertel des deutschen Handels mit Polen ab. "Berlins Unternehmen schlagen aus den guten Ausgangsbedingungen noch nicht wirklich Kapital", kritisiert Wolfram O. Martinsen, der MOE-Koordinator des Regierenden Bürgermeisters. "Der Mittelstand erkennt die Chancen vielfach nicht, und die Berliner Politik hat es die vergangenen fünf Jahre über versäumt, die wirtschaftlichen Weichen in Richtung Osteuropa zu stellen", so Martinsen.
Die mangelhafte Infrastruktur, die für manchen Berliner Unternehmer Polen in weite Ferne rücken lässt, ist nur eine Folge von vielen. "Wenn ich nach Kattowitz muss, ist das im Flugzeug nur über Düsseldorf oder Frankfurt möglich. Ich brauche für diese Strecke bis zu sechs Stunden, ein westdeutscher Mitbewerber eineinhalb", sagt Peter Kurth, Vorstand beim Entsorger Alba. Die stürmische Expansion des Unternehmens in den MOE-Ländern haben diese und andere Hürden dennoch nicht aufgehalten. Knapp 1000 Beschäftigte hat Alba inzwischen dort, vor allem in Polen und Bosnien. Jüngst übernahmen die Berliner mit WPO im Raum Breslau den größten kommunalen Entsorgungsbetrieb in Polen.
Auch in anderen Sparten können hauptstädtische Konzerne punkten. Früh hatte beispielsweise der Verlag Axel Springer auf die Ost-Märkte gesetzt. Seit 1988 ist der Verlag in Ungarn aktiv, wuchs zum größten Verlagshaus des Landes und gibt inzwischen 19 Zeitschriften sowie 10 Zeitungen dort heraus. Axel Springer Polska zählt mit 15 Zeitschriften und einer Zeitung zum zweitgrößten Zeitschriftenverlag Polens und zum Anzeigenmarktführer. In Tschechien gibt der Verlag acht Titel heraus, in Rumänien hält er 40 Prozent an der Romanian Publishing Group (RPG), dem zweitgrößten Zeitschriftenanbieter des Landes.
Vergleichbar rasant wuchs das Pharma-Unternehmen Berlin-Chemie, das nach der Wende Teil des italienischen Chemiegiganten Menarini wurde und inzwischen in 30 Ländern Mittel- und Osteuropas sowie Zentralasiens aktiv ist. "Die MOE-Staaten sind für uns extrem wichtig, jedes zweite Geschäft wickelt Berlin-Chemie inzwischen dort ab", sagt Domenico Simone, beim Mutterkonzern in Florenz für Marketing und den Vertrieb verantwortlich. In Weißrussland ist Berlin-Chemie Marktführer, im Baltikum die Nummer zwei, in Russland unter den Top Five.
Doch laut Analyse der IBB bereiten sich derzeit nur 20 Prozent der Berliner Unternehmen auf die EU-Osterweiterung vor. Für den polnischen Botschaftsrat in Berlin, Tomasz Kalinowski, kein Grund zur Sorge, das Geschäft mit den MOE-Staaten sei schließlich keine Einbahnstraße. "Es gibt unglaublich großes Interesse polnischer Firmen, sich in der Berlin niederzulassen", so Kalinowksi. "Unsere hungrige Wirtschaft wird Deutschland und vor allem Berlin neue Impulse geben."